100 Jahre nach Freud: Vergebung statt Analyse

Vortrag von Dr. Raphael Bonelli, am 25.11.09 im Bildungszentrum Feldmark, Berlin

Was ist die dem Menschen am besten gemäße Weise, mit Verletzungen, Demütigungen und erlittenem Unrecht umzugehen? Sind Groll oder gar Verbitterung und Übung von Rache unausweichliche Reaktionen, um damit psychisch fertig zu werden? Sind wir von unserem Temperament weitgehend  abhängig, oder sind wir gar von neurobiologischen Mechanismen derart determiniert, so dass wirkliche Freiheit in unseren Gedanken und Tun gar nicht existiert?

Diesen Fragen, denen auch Sigmund Freud vor 100 Jahren nachgegangen ist, stellte Dr. Raphael Bonelli, Psychiater und Dozent an der Paracelsus Medizinische Universität Salzburg (PMU), in seinem Vortrag am 25.11.2009 im Bildungszentrum Feldmark, zu dem mehr als 50 Zuhörer gekommen waren. S. Freud verwendete in seinem sehr umfangreichen Werk ausgesprochen selten das Wort „Freiheit“. Er postulierte unter dem Begriff "psychischer Apparat“, dass das Ich des Menschen (Bewusstsein) vom Über-Ich (Gewissen, Vorschriften, Erziehung durch die Eltern) und vom Es (Triebe, Gefühle) gesteuert werde.  Seine Handlungen würden weitgehend vom Unbewussten determiniert, worüber das Individuum kaum orientiert sei. Nur durch Methoden wir z.B. die Traumdeutung könne darüber etwas erfahren werden. Nach der Analyse von Medard Boss werde bei Freud alles Geistige auf das Psychische, alles Psychische auf das Organische und alles Organische auf das Mineralische reduziert. Durch die klassische Psychoanalyse werde versucht, die Ursachen von psychischen Störungen in der frühen Kindheit zu suchen.

Keine Frage, so Bonelli, dass wir biologische Bedingtheiten in unserer Persönlichkeit zur Kenntnis nehmen müssen, diese wurden schon in der Antike als Temperamente beschrieben. Die vermutlich erblich bedingt cholerische, sanguinische, phlegmatische oder melancholische Verfasstheit des Menschen beschäftigte seit jeher die Wissenschaft. Moderne Forschungsmethoden in jüngster Zeit hätten dieses Interesse weiter gesteigert. Als Beispiel für neue Richtungen in der Psychotherapie, die aber die menschliche Freiheit bejahen, führte Bonelli die Arbeiten der amerikanischen Psychiater C. Robert Cloninger über die Dimensionen des Temperaments und Charakters an. Er definierte drei Dimensionen des menschlichen Charakters: Sachlichkeit, Kooperationsfähigkeit und Selbsttranszendenz. Wie kompetent er in diesen Eigenschaften sei, davon hänge die psychische Gesundheit des Menschen ab. Ferner erläuterte er die Therapie-Richtung der "Positiven Psychologie" des amerikanischen Psychiaters Martin Seligmann und zitierte aus seinem Werk von 2002: "Der Glücksfaktor: Warum Optimisten länger leben".

Die  biologische Identität jedes Menschen, so führte Bonelli weiter aus, sei Ausgangsbasis, kein deterministisches Schicksal: durch Selbsterkenntnis und den freien Willen sei auch eine beständige Verhaltensmodifikation vieler unserer sozialen Reflexe möglich. Auch diese Einsicht ist seit der Antike bekannt: Gewinn an Handlungsfreiheit durch Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß - die vier Kardinaltugenden. Aus  dem naturhaft angelegten Temperament entwickelt der Mensch im Zusammenspiel von Wille und Vernunft seinen Charakter. Dabei spielen Tugenden und die Orientierung an moralisch hochstehenden Idealen eine wichtige Rolle - und auch die Fähigkeit zu Vergeben und um Vergebung zu bitten.

Die Schlüsselfrage seines Vortrags lautete schließlich: Was machen wir aus erlittenem Unrecht?  Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. M. Linden, ein Psychiater der Berliner Charité, forscht über die Folgen von Verbitterung beim sog. PTED- Syndrom (posttraumatische Verbitterungsstörung). Dabei reagieren Patienten nach einem schwerwiegenden negativen Lebensereignis, das die Patienten als "ungerecht" erleben, mit Verbitterung.  Die Therapie besteht dabei in Sachlichkeit gegen krankhafte Ichhaftigkeit, Loslassen und Verzeihen gegen Unversöhnlichkeit.  Bei der von ihm propagierten "Weisheitstherapie" werden komplexe und scheinbar unlösliche Lebensprobleme aus verschiedenen Perspektiven kommentiert und die Fähigkeit des Perspektivwechsels wird dadurch allmählich erworben.

Der Vortrag von Raphael Bonelli schlug insofern eine Brücke zwischen neuen naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen einerseits und klassischen geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits.

In der regen Diskussion wurde die Thematik von erlittenem oder zugefügtem Unrecht, die Fähigkeit zur Vergebung und das Drama der Verbitterung noch vertieft. Die Beichte sei für den Christen ein relevanter Weg außerhalb der Psychotherapie zur Erlangung von Seelenfrieden und Neuanfang. Eine wichtige Therapieoption ergänzte Bonelli am Ende noch: der Humor sei in allen Kulturen die hohe Schule menschlicher Weisheit.

W. Hanuschik