Auf das erhöhte Kreuz schauen

Anmerkungen zum Fest Kreuzerhöhung von Josef Arquer

In einer ehemals christlich geprägten, heute spirituell verwahrlosten Gegend war am Wiesenrand ein steinernes Gebilde. Zwei Figuren standen sich gegenüber, sie schauten sich aber nicht an, sondern, den Blick nach oben gerichtet, starrten in eine Leere, die fast greifbar „Etwas“ zu werden schien. Ein irritierender Anblick. Es war der Rest einer Kreuzigungsgruppe: Maria und Johannes. Das Kreuz mit dem Gekreuzigten fehlte. Verwitterung oder Vandalismus hatten es zerstört. Die händeringende Gestik der Gottesmutter hatte etwas Dramatisches, für einen Ahnungslosen auch Rätselhaftes. Kurz vor dem Fest Kreuzerhöhung wirkt die Gruppe, deren Mitte aus reiner Leere besteht, wie eine Frage: Wie ist es, wenn einem Menschen das Kreuz fehlt, wenn einer nicht weiß, dass er das Leid in seinem Leben zum Heilszeichen werden lassen kann? Denn das Leiden ist präsent im Leben eines jeden. „Es scheint wesentlich die Natur des Menschen zu betreffen. Es ist so tief wie der Mensch selbst, gerade weil es auf seine Weise die dem Menschen eigene Tiefe ausdrückt und sie seinerseits noch übersteigt“ (Johannes Paul II, Salvifici doloris, 2).

Viele versuchen, das unlösbare Rätsel in stoischer Gelassenheit zu ertragen, andere verzweifeln, wieder andere halten am Glauben fest – und hadern mit Gott. Auch das ist Gebet. So fühlt sich der Psalmist, umzingelt vom Bösen und Grausamen, „verstoßen an den Ort der Schakale und (...) bedeckt mit Finsternis.“ Aus seiner Not heraus ruft er: „Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoß nicht für immer! Warum verbirgst du dein Gesicht, vergisst unsere Not und Bedrängnis? Unsere Seele ist in den Staub hinabgebeugt, unser Leib liegt am Boden. Steh auf und hilf uns! In deiner Huld erlöse uns!“ (vgl. Ps 44, 20-27)

„Dieser Notschrei des leidenden Israel an Gott in Zeiten der äußersten Bedrängnis ist zugleich der Notruf all derer in der Geschichte – gestern, heute und morgen –, die um Gottes willen, um der Wahrheit und des Guten willen leiden, und das sind viele, auch heute. Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns, wenn wir uns zum Richter über Gott und die Geschichte machen wollen. Dann würden wir nicht den Menschen verteidigen, sondern zu seiner Zerstörung beitragen. Nein – im letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf! Vergiss dein Geschöpf Mensch nicht! Und unser Schrei an Gott muss zugleich ein Schrei in unser eigenes Herz hinein sein, dass in uns die verborgene Gegenwart Gottes aufwache – dass seine Macht, die er in unseren Herzen hinterlegt hat, nicht in uns vom Schlamm der Eigensucht, der Menschenfurcht und der Gleichgültigkeit, des Opportunismus verdeckt und niedergehalten werde.“ (Papst Benedikt XVI.)

Kreuzerhöhung – historisch wie existentiell

Vom Historischen her führt das liturgische Fest Kreuzerhöhung in die Zeit um das Jahr 324, als die greise Kaiserin Helena nach Jerusalem pilgerte. Sie ordnete Ausgrabungen an, um das Kreuz des Herrn zu finden. Die Kenntnis des Ortes hatte sich erhalten, weil der römische Kaiser Hadrian, um jede Erinnerung an die Grabstätte Christi auszulöschen, im Jahre 135 einen Venustempel am Ort der Kreuzigung Jesu hatte errichten lassen. Nach der Auffindung des Kreuzes blieb dessen Hauptteil in der Obhut des Bischofs von Jerusalem und wurde bei hohen liturgischen Feiern öffentlich zur Schau gestellt und zur Verehrung „erhöht“.

Vom Existentiellen her ist das Kreuz in der Gestalt von Leid und Schmerz in der Welt und im Leben eines jeden Menschen präsent – gläubig angenommen oder verborgen unerkannt. Jemand, der im Leiden und Gedulden erfahren war, fasste seine Erfahrung so zusammen: Wir sind nicht angetreten, um glücklich zu sein. Die bitteren Stunden und Erlebnisse sind Teil unseres Lebens, bei manchen auch der überwiegende.

Es stimmt: Leid und Schmerz gehören zum Leben. Die christliche Antwort „erklärt“ das Leiden nicht, sie durchformt es. Als Christen bekennen wir, dass mit der ersten Sünde Leid, Tod und Hang zum Bösen in die Welt kamen. Aber: „Du hast das Heil der Welt auf das Holz des Kreuzes gegründet. Vom Baum des Paradieses kam der Tod, vom Baum des Kreuzes erstand das Leben.“ (Präfation vom Heiligen Kreuz) Im Licht des Glaubens kann sich einer, der glaubt, mit den eigenen Plagen und Lasten Christus nähern, auf ihn schauen, die eigenen Nöte mit seiner Not verbinden – mit seinem Kreuz.

Dies ist nur möglich, wenn das Kreuz aufgerichtet, symbolisch zu sehen, real zu spüren ist. Die Lasten fallen nicht weg, aber sie hören auf zu bedrücken, weil sie eins werden mit dem Joch Jesu Christi. „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Lk 9,23). Die Karfreitagsliturgie deutet das an, wenn das Kreuz über die Gemeinde erhoben und zur Verehrung ausgestellt wird: „Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt. Kommt, lasset uns anbeten.“

Gottes rettende Geduld

All unsere Nöte und all die Leiden der Welt stehen in einem geheimnisvoll realen Zusammenhang mit dem Kreuz Christi. Dem schieren Verstand bleibt das Leiden Christi am Kreuz rätselhaft. Manchmal erhebt sich auch ein stilles Aufbegehren dagegen. „Wie oft wünschten wir, dass Gott sich stärker zeigen würde. Dass er dreinschlagen würde, das Böse ausrotten und die bessere Welt schaffen. Alle Ideologien der Gewalt rechtfertigen sich mit diesen Motiven: Es müsse auf solche Weise zerstört werden, was dem Fortschritt und der Befreiung der Menschheit entgegenstehe. Wir leiden unter der Geduld Gottes. Und doch brauchen wir sie alle. Der Gott, der Lamm wurde, sagt es uns: Die Welt wird durch den Gekreuzigten und nicht durch die Kreuziger erlöst. Die Welt wird durch die Geduld Gottes erlöst und durch die Ungeduld der Menschen verwüstet.“ (Benedikt XVI., Amtsübernahme 24.4.05)

Wer im Glauben verankert ist und so einen tiefen Schmerz erfährt – zum Beispiel den Tod eines geliebten Menschen –, der kann nachvollziehen, was es heißt, die Augen heben, auf das aufgerichtete Kreuz schauen und versuchen von Gottes Geduld zu lernen: Die Erschütterung reicht bis in die Wurzeln der Existenz, unauslotbare Abgründe tun sich auf. Gäbe er sich dem Sog der Tiefe anheim, er würde sich in der Bodenlosigkeit seines Leids verlieren. Schaut der sinkend Glaubende aber nach oben, erfährt er ganz da unten voll Staunen, dass er doch nicht versinkt, sondern in der Tiefe seines Schmerzes auf Felsengrund trifft. Es ist der innere Fels von Golgota, auf dem das Kreuz Christi aufgerichtet ist. Der hoffende Blick des Glaubenden geht nicht ins Leere wie das sinnlose Starren der beiden Figuren, denen das Kruzifix abhanden kam, sondern richtet sich – wie in der Wirklichkeit vor zweitausend Jahren der Blick Mariens und Johannes – auf den Christus, der leidend starb und am dritten Tage auferstand.

Nur so erfährt einer im Letzten weder Verlorenheit, noch Einsamkeit, noch Verzweiflung, sondern in all seiner Schwäche eine neue Kraft. Sie erscheint ihm wie geliehen, denn sie kommt nicht aus den Wurzeln der eigenen Existenz, sondern ist im Felsen verankert. Solch existentielle Erfahrung lässt sich nicht mitteilen. Mitteilbar ist nur die Ahnung, dass Schmerz und Leid sinnhaft werden können, dass sie einen stark werden und reifen lassen.

Dem Verstand bleibt das Leiden Christi am Kreuz rätselhaft. Aber das Herz erfährt im eigenen Leid, weshalb Jesus uns durch den Schmerz hindurch hat erlösen wollen – und nicht durch den Triumph. Wir ahnen, dass unser Glaube – unser Leben – nicht auf dem Hosianna vom Palmsonntag, sondern auf dem Halleluja von Ostern gründet. Wir danken für die Einsicht, dass der Christ nicht auf das eigene Koordinatenkreuz aus Erfolg und Erfahrung starrt, sondern auf das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus:

Erhör, o Gott, mein Flehen,

hab auf mein Beten acht.

Du sahst von fern mich stehen,

ich rief aus dunkler Nacht.

Auf eines Felsen Höhe

erheb mich gnädiglich.

Auf dich ich hoffend sehe:

du lenkst und leitest mich.

Du bist gleich einem Turme,

den nie der Feind bezwang.

Ich weiche keinem Sturme,

bei dir ist mir nicht bang.

In deinem Zelt bewahren

willst du mich immerdar.

Mich hütet vor Gefahren

dein schirmend Flügelpaar.

(hl. Edith Stein, nach Psalm 61)