Die Liebe tut solche Dinge!

Zum Fest der Verkündigung des Herrn eine Meditation von Josef Arquer

Ihr eigener Rhythmus erlaubt es der Liturgie zeitlich weit voneinander entfernte Ereignisse zu verbinden. In diesem Jahr lässt sie uns kurz vor der Karwoche, in der wir das Ende von Jesu Leben auf Erden nacherleben, dessen Anfang feiern: den Tag der Menschwerdung Gottes im Schoße der Jungfrau.

Erst in neun Monaten wird das Kind sichtbar, hörbar, greifbar werden: für Maria, für Josef, für die Hirten. Jetzt betrachten wir ihn, der schon da ist in unserer Zeit und unserer Geschichte, aber noch unsichtbar im Schoß der Mutter. „Gott ist in die Menschheitsgeschichte eingetreten; als Mensch ist er Subjekt dieser Geschichte geworden, einer von Milliarden und gleichzeitig dieser eine! Durch die Menschwerdung hat Gott dem menschlichen Leben jener Dimension gegeben, die er ihr von Anfang an zugedacht hat.“ (Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor hominis, 11)

Weil Gott Mensch geworden ist, wird er für die Menschen greifbar. Als Jesus auf Erden lebte, drängten sich viele an ihn heran und berührten ihn. Dann, im Laufe der Jahrhunderte, dürfen die es Maler, Bildhauer, Dichter wagen, sich ein Bild von ihm zu machen: als Kind in der Krippe und im Tempel, als Hirten und Lehrer, als Leidenden und Gekreuzigten, als Auferstandenen im Licht.

Auch das Ereignis der Menschwerdung selbst wird durch den Blick auf die werdende Mutter gleichsam zugänglich, in deren Schoß „sich die Zeit erfüllt“ (vgl. Gal 4,4). Wir sehen sie in einem vornehmen Gemach, als färbte ihre innere Schönheit auf die Umgebung ab. Bei einigen Bildern streift von oben her ein Lichtstrahl das Ohr der Jungfrau – ein Hinweis auf ihren hellhörigen Glaubensgehorsam. Und mitunter ist in dem Lichtstrahl das Kind mit geschultertem Kreuzstab zu sehen – in naiver Annäherung an das Geheimnis des erlösenden Kreuzes.

Der Bericht des Evangeliums ist knapp (vgl Lk 1,26-38). „Der Name der Jungfrau war Maria.“ Aber der Engel nannte sie nicht bei ihrem Name an, als er bei ihr eintrat: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.“ Die Theologen übersetzen das griechische „kecharitomene“ mit „du Begnadete“ oder „du voll der Gnade“. Damit deuten sie an, „dass der Träger dieses Namens nicht nur die Fülle der Gnade besitzt, sondern dass die Gnade geradezu seinen Charakter und sein Wesen bestimmt und ausmacht. (...) Die Gnade Gottes ist ihr (Maria) in Christus so wesentlich verbunden und zu Eigen (wie eben einer Mutter ihr Kind zu Eigen ist), dass sie als die Begnadete schlechthin bezeichnet werden kann. Die Gnade gehört geradezu zum Charakter ihrer Person“ (Leo Kardinal Scheffczyk)

Am Anfang christlicher Berufung

Seit den Anfängen der Christenheit bis in unsere Tage ist die Versuchung präsent, das Mysterium von Gottes Menschwerdung aufzulösen in eine bloße Idee, ein Symbol, eine Metapher. Aber herausfordernd bekräftigt Johannes: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1, 14). Die genaue Übersetzung lautet sogar: „Er hat sein Zelt unter uns aufgeschlagen.“ Er wohnt unter uns als Gott wie er einst beim Wüstenzug in einem Zelt mitten unter dem Volke Israel wohnte.

Romano Guardini deutet aus und bekennt: „Die Liebe tut solche Dinge! Dieses Wort hilft mir immer wieder. Nicht, dass es dem Verstande etwas erklärte, aber es ruft das Herz, lässt es ins Geheimnis Gottes hinüberfühlen. Das Geheimnis wird nicht begriffen, aber es kommt nahe, und die Gefahr des ‚Ärgernisses' schwindet.“

Die Feier der Verkündigung des Herrn ist zugleich die Feier des Augenblicks, da Maria ihre Berufung entdeckt. Mehr noch: Sie ist die Feier des Augenblicks, da die christliche Berufung überhaupt, die Berufung zur Nachfolge Christi, für den Lebensentwurf des Menschen greifbar wird.

Es ist wahr: Die Menschwerdung des Gottessohnes im Schoße Mariens ist die Mitte der Geschichte und eine kosmische Botschaft, die die Zeiten übergreift. Doch zugleich ist sie ein persönlicher Ruf an einen konkreten Menschen: Damals an ein junges Mädchen in Nazaret, das nach der Tradition und nach den jüdischen Sitten vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war und eine erste wesentliche Entscheidung in ihrem Leben getroffen hatte: die Verlobung mit Josef. – Heute ein Ruf an jeden Menschen: „Gott kommt in Person, um zum Menschen über sich zu sprechen und ihm den Weg zu zeigen, auf dem er ihn erreichen kann“ (Johannes Paul II, Tertio millenio adveniente, 6). Wie der Ruf ist auch die Antwort persönlich. Das „Mir geschehe“ ist nur scheinbar passiv, denn die Jungfrau hat mit ihrem ganzen menschlichen, fraulichen "Ich" geantwortet.

Gerne wüssten wir mehr über die Empfindungen Marias in der Zeit bis zur Geburt ihres Sohnes. Alles musste ihr neu erschienen sein. Doch das Evangelium erlaubt nur hier und dort einen kurzen Einblick in ihr Erleben dieser scheinbar alltäglichen Schwangerschaft. Vor allem ihren hilfsbereiten Besuch bei Elisabeth und ihren Lobpreis, das Magnificat, das entfaltet, was Maria dem Engel Gabriel geantwortet hatte: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ Das war kein feierliches Jawort, eher eine leicht verwunderte Bekräftigung, so als sei ihr Ja eine Selbstverständlichkeit. Anscheinend hat Gabriel nichts anderes erwartet. Denn man meint beinahe zu sehen, wie er die Tür hinter sich schließt, als es heißt: „Danach verließ sie der Engel“.