Im Netz – geborgen, nicht gefangen

Zum Fest Allerheiligen eine Betrachtung von Josef Arquer

"Im Netz gefangen..." "Ins Netz gegangen..." sind übliche Bilder unheilvoller Verstrickungen. "Im Netz geborgen" klingt zunächst paradox. Doch im Verlauf des Kirchenjahres drängt sich dieses Bild auf, wenn im Monat November das Hochfest Allerheiligen und in Zusammenhang mit ihm der Gedenktag Allerseelen gefeiert werden

Die Kirche lebt. Sie ist ein Organismus mit dem lebenspendenden Christus als Haupt. Jeder Getaufte ist ein Glied an ihr, ist Kirche – aber nicht für sich allein. So lebt jeder durch die Kirche und trägt zugleich zu ihrem Leben bei.

"Die Sonne und der Mond, die Zeder und die Feldblume, der Adler und der Sperling – all die unzähligen Verschiedenheiten und Ungleichheiten besagen, dass kein Geschöpf sich selbst genügt, dass die Geschöpfe nur in Abhängigkeit voneinander existieren, um sich im Dienst aneinander gegenseitig zu ergänzen". Ehe, Familie, Erziehung und das dichte Geflecht der Beziehungen innerhalb eines Gemeinwesens zeugen schon innerhalb des Natürlichen von dem "Gesetz der Solidarität und Liebe" (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche 340).

Auch auf der Ebene des Übernatürlichen ist es so. Wir sind in einem unsichtbaren Netz nicht gefangen, sondern geborgen. Unser Beten und Leiden, Tun und Erdulden kommt anderen zugute. Und umgekehrt: Jetzt, in diesem Augenblick betet jemand für mich - sendet mir das Leiden eines anderen Menschen Kraft zu. Der Schmerz eines Gliedes wird für den ganzen Leib fruchtbar, und der ganze Leib wirkt mit, damit die Wunde eines Gliedes verheilt.

Der Blick des Herzens weitet sich und schließt all die Leidenden ins Gebet ein. Auch die Not der Unbekannten, die unsere tätige Hilfe nicht erreicht, tragen wir betend mit: Krankheit, Einsamkeit, Verlassenheit, Gefangenschaft, Zweifel, Überforderung, Entfremdung und Feindschaft gegenüber der Kirche bis hin zur Verfolgung ...

Das Beten "für" andere lässt ein Mysterium spirituell greifbar werden, das Paulus im Römerbrief andeutet: "Wir, die vielen, sind ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören" (12,5). Der heilige Augustinus sieht dies realisiert, wenn der sterbende Stephanus für seine Henker betet und Saulus daneben steht: "Wenn Stephanus nicht zu Gott gebetet hätte, hätte die Kirche keinen Paulus." Augustinus verdankt seine eigene Bekehrung dem Gebet und den Tränen seiner Mutter Monika. So kann er auch erkennen, wie fruchtbar das Gebet des Stephanus war.

Wir beten füreinander, für die Anliegen des Papstes und der ganzen Kirche, für das apostolische Wirken in Missionsgebieten oder hier bei uns, für die Mächtigen und die Ohnmächtigen, für Schwestern und Brüder in jeglicher Not, für Menschen, die sich dem Glauben entfremdet haben, für alle, die Christus noch nicht kennen oder ihn gar hassen und Hass predigen.

Der Gedanke an den Austausch geistlicher Güter spornt an: Jemand braucht mein Gebet – ob er es weiß oder nicht. Jemand verlässt sich auf meine Treue. Jemand macht mich reich durch sein Opfer. Deshalb kann mich die betende Überlegung beflügeln: "Je mehr meine Treue wächst, desto mehr trage ich dazu bei, dass auch andere in der Treue wachsen. Wie wohltuend ist es zu spüren, dass wir uns gegenseitig stützen!" (Josefmaria Escrivá, Spur des Sämanns 948)

Wenn wir einmal vor Gottes Gericht stehen und auf unser Leben zurückblicken, werden wir dankbar erkennen, wer uns in der Not gehalten, wer uns Gott näher gebracht hat. Und wir erfahren, wie unsere Gebete und Opfer für vertraute Menschen vielleicht doch wirksam geworden sind, obwohl wir sie im Leben für umsonst hielten.

Das Fest Allerheiligen fließt in den Gedenktag Allerseelen hinein. Dies weitet den Blick. In allen Religionen und Kulturkreisen gibt es ein Urempfinden dafür, daß mit dem Tod der Mensch nicht ins Nichts fällt. Unser Glaube gibt dieser Ahnung, die sich in vielfachen Formen von Ahnen- und Totenkulten äußert, Gewißheit und Gestalt. "Ich bin die Auferstehung und das Leben" (Joh 11,25), "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,16). Jedesmal steht das geheimnisvolle, unergründliche Ich Jesu in der Mitte. Aus diesem Ich strömt das übernatürliche Leben in den Organismus des mystischen Leibes Christi. Darin liegt die Hoffnung für jeden einzelnen und für alle Verstorbenen begründet.

Im Licht des Glaubens erhellt das Todes-Sinnbild der fallenden Blätter eine tiefere Bedeutung; denn es fallen auch die Samen, die – mehr als ein Bild – Keime des Lebens sind: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht" (Joh 12,24).

"Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, Sünder, jetzt, und in der Stunde unseres Todes!" Und bitte für all die Verstorbene, für die kein Mensch betet!