Brief des Prälaten aus Anlass des Jahres der Barmherzigkeit

"Danken wir dem Heiligen Vater mit Taten und mit Gebet für die Ausrufung dieses besonderen Jubiläums, das eine wahre Gnadenzeit für die Kirche und die Welt sein wird."

Meine Lieben, Gott schütze Euch!

1.Gepriesen sei der Gott und Vater Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater des Erbarmens und der Gott allen Trostes (2 Kor 1, 3), der uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht hat. (…) Er hat uns mit Christus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben (Eph 2, 4-6).

Diese Worte des hl. Paulus sind hilfreich, um gleich zu Anfang in den Mittelpunkt zu stellen, was ich Euch mit diesen Zeilen vermitteln möchte. Der Grund für meinen Brief war der Wunsch, uns so gut wie möglich auf dieses Jahr der Barmherzigkeit vorzubereiten, das Papst Franziskus anlässlich des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Konzils vor fünfzig Jahren ausgerufen hat. Wie Ihr wisst, wird es am 8. Dezember 2015 eröffnet und am Hochfest Christkönig, am 20. November 2016, zu Ende gehen.

Als der Papst seine Absicht, dieses außerordentliche Heilige Jahr auszurufen, publik machte, hat es uns besondere Freude bereitet, dass es mit dem Ausklang des marianischen Jahres der Familie zusammenfällt, das wir in der Prälatur begehen. Wir haben darin ein weiteres Zeichen erkannt, dass wir unter dem Schutz Mariens stehen, die wir in den Litaneien als Regína famíliae und Mater misericórdiae anrufen.

Auf die Fürsprache unserer Mutter hin suchen wir eine sichere Zuflucht in Gott, der in seiner Güte immer bereit ist, unsere Bitten zu erhören und sich unserer persönlichen Bedürfnisse anzunehmen. Das göttliche Erbarmen macht uns fähig zu größerer Liebe und mehr Verständnis, Brüderlichkeit und Interesse für die Menschen, um als Glieder der Kirche „zu einer humaneren Gestaltung der Menschenfamilie und ihrer Geschichte“[1] beizutragen. Gehen wir unseren Weg Tag für Tag voller Hoffnung, denn der Himmel gibt uns alle Mittel, um den inneren Frieden zu bewahren, da wir wissen, dass die Heiligste Dreifaltigkeit sich beständig um die Schöpfung kümmert. Wie Papst Franziskus uns in Erinnerung ruft, steigen wir von den geschaffenen Werken auf zur Kontemplation der liebevollen väterlichen Hand Gottes.[2]

Danken wir dem Heiligen Vater mit Taten und mit Gebet für die Ausrufung dieses besonderen Jubiläums, das eine wahre Gnadenzeit für die Kirche und die Welt sein wird. Uns alle macht es sehr froh, den Ruf unseres gemeinsamen Vaters aufzunehmen, eine größere Nähe zu Christus zu suchen. Tun wir dies in unserer Frömmigkeit und in der Feier der Sakramente – vor allem der Beichte und der Eucharistie –, nicht zuletzt aber auch in konkreten Werken der brüderlichen Liebe zum Nächsten. Wenn wir dem Heiligen Geist gegenüber fügsam sind, werden wir Christus und auch unserem himmlischen Vater ähnlicher werden, dessen barmherziges Antlitz uns in Jesus Christus offenbart worden ist.

2.Deus, cui próprium est miseréri semper et párcere: súscipe deprecatiónem nostram[3], o Gott – so beten wir jeden Tag –, dem es eigen ist, immer zu verzeihen und verschonen: Nimm unsere flehentlichen Bitten an. Die Barmherzigkeit! Es ist immer nötig, sich um ein vertieftes Verständnis dieses tröstlichen göttlichen Attributes zu bemühen, das alle anderen einschließt. Dazu lädt uns jetzt die Kirche ein. Tun wir es mit kindlichem Vertrauen. In seinem Aufruf zu diesem außerordentlichen Jubiläum schreibt der Papst über die Barmherzigkeit, dass „sich in diesem Wort das Geheimnis der Allerheiligsten Dreifaltigkeit offenbart. Barmherzigkeit ist der letzte und endgültige Akt, mit dem Gott uns entgegentritt. Barmherzigkeit ist das grundlegende Gesetz, das im Herzen eines jeden Menschen ruht und den Blick bestimmt, wenn er aufrichtig auf den Bruder und die Schwester schaut, die ihm auf dem Weg des Lebens begegnen. Barmherzigkeit ist der Weg, der Gott und Mensch vereinigt, denn sie öffnet das Herz für die Hoffnung, dass wir, trotz unserer Begrenztheit aufgrund unserer Schuld, für immer geliebt sind.“[4]

Seit der Veröffentlichung der Enzyklika Dives in misericórdia von Johannes Paul II. sind fünfunddreißig Jahre vergangen. Damals wies er mehrmals darauf hin, wie angebracht es ist, diesen wunderbaren Ausdruck der Liebe Gottes oft zu betrachten. „Sich diesem Geheimnis zuzuwenden“, so schrieb er, „wird von vielfachen Erfahrungen der Kirche und des zeitgenössischen Menschen nahegelegt; es wird auch von den notvollen Rufen so vieler Menschenherzen, von ihren Leiden und Hoffnungen, ihren Ängsten und Erwartungen gefordert.“[5]

Die Worte dieses heiligen Papstes sind nicht nur weiterhin aktuell, sie sind sogar jeden Tag vor größerer Bedeutung, denn auch wenn wir immer der göttlichen Nachsicht bedürftig sind, kann man doch mit Fug und Recht behaupten, dass dieses Bedürfnis in unserer Zeit noch drängender geworden ist. Wenn Papst Franziskus die Heilige Pforte in den verschiedenen päpstlichen Basiliken – und jeder Bischof in seiner Ortskirche – öffnen wird, „werden wir das Leben der Kirche, die gesamte Menschheit und den unermesslichen Kosmos der Herrschaft Christi anvertrauen mit der Bitte, dass seine Barmherzigkeit sich wie der Morgentau auf die Geschichte lege und sie fruchtbar werden lasse“[6]. Als Folge seiner persönlichen Erfahrung sprach der hl. Josefmaria seit den Anfängen des Werkes ganz ausdrücklich von der Notwendigkeit, unsere Zuflucht zur unendlichen Liebe Gottes zu nehmen, der seine Kinder, Frauen und Männer, nicht verlässt. Auf stets neue Weise legte er uns nahe, an die Tür des Herzens Jesu zu klopfen.

3.Der hl. Josefmaria hat uns gelehrt, die Wege der Erde mit der von Christus geoffenbarten Barmherzigkeit zu tränken. Konkret formulierte er: Unsere Hingabe im Dienst an den Menschen ist ein Zeichen dieses Erbarmens Gottes, nicht nur uns gegenüber, sondern für die ganze Welt.[7] Gehen wir auf unserem Weg als Mitarbeiter Gottes an der Hand unseres Vaters voran, damit in jedem Christen und in allen Menschen guten Willens dieser Strom der barmherzigen Liebe reichlicher fließe, der sich aus dem verwundeten Herzen Jesu beständig über die Menschheit ergießt.

Meine Töchter und Söhne, ich lade Euch ein, Euer Herz mit diesem Verlangen, mit dieser Sehnsucht, zu füllen und das Jahr der Barmherzigkeit innerlich gesammelt und froh zu beginnen. Wir werden uns an den Lehren der Heiligen Schrift orientieren, deren Seiten ein wunderbares Lied zu Ehren der göttlichen Nachsicht sind; ganz besonders werden wir uns dem Beispiel Christi, seinem Leben und seiner Lehre zuwenden und versuchen, das Verhalten unseres Erlösers auf den Spuren des hl. Josefmaria nachzuahmen, der unablässig seine Augen auf den Guten Hirten richtete, der alles für seine Schafe hingibt (vgl. Joh 10, 1-18). Er hat uns und vielen Männern und Frauen geraten, unsere Augen beständig und mit Sehnsucht auf den Herrn des Himmels und der Erde zu richten.

Das Erbarmen Gottes mit der Menschheit

4.Schon das Alte Testament verkündet auf vielen Seiten das unauslotbare Erbarmen Gottes mit seiner Schöpfung. Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Gnade. Der Herr ist gütig zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken (Ps 145, 8-9). Auch die Propheten werden nicht müde, darauf hinzuweisen: Kehrt um zum Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte, und es reut ihn, dass er das Unheil verhängt hat (Joël 2, 13).

Beim Letzten Abendmahl betete unser Herr gemäß der jüdischen Tradition das große Hallel oder den großen Lobgesang, einen Psalm, der die Wundertaten aufzählt, die Gott in der Schöpfung und in der Geschichte vollbracht hat; am Ende jeden Verses werden wie ein Refrain die folgenden Worte wiederholt: Denn seine Huld währt ewig (Ps 136).

„Im Licht der Barmherzigkeit leuchtet in allen Ereignissen der Geschichte des Bundesvolkes deren Heilscharakter auf.“[8] Dieses Merkmal zeigt sich in seiner ganzen Fülle auch im Neuen Testament durch die erlösende Menschwerdung des Sohnes Gottes. Mit der Hingabe seines Lebens im blutigen Kreuzesopfer und mit der Einsetzung der Eucharistie und der anderen Sakramente machte Jesus in seiner Person diesen höchsten Akt der Liebe zum wesentlichen Inhalt der göttlichen Barmherzigkeit.

Es ist gut, häufig die Abschnitte im Evangelium zu lesen, die das Mitleid und das Verständnis Jesu mit den Menschen durchscheinen lassen; von seiner Geburt in Bethlehem bis zu seinem Ganzopfer auf dem Kalvarienberg. Halten wir immer wieder inne und betrachten wir in Ruhe seine barmherzige Liebe, die er bei so vielen Gelegenheiten unter Beweis stellt; etwa wenn er die Kranken heilt und die Besessenen gesund macht, wenn er die hungrige Menschenmenge speist, wenn er mit vollen Händen das Brot der Lehre austeilt, wenn er den reuigen Sündern entgegegen geht und ihnen verzeiht, wenn er die Jünger erwählt, wenn er sie mit einem Blick oder einem Wort tadelt, wenn er die Apostel ruft, um sie in die ganze Welt auszusenden, wenn er uns seine Mutter zu unsrer Mutter gibt, wenn er uns den verheißenen Heiligen Geist sendet und vieles mehr. In jedem seiner Worte und seiner Werke zeigt Christus in aller Deutlichkeit das milde Antlitz Gottes des Vaters.

Dasselbe geschieht im Laufe der Kirchengeschichte, nach der Himmelfahrt Christi. Inmitten der Licht- und Schattenseiten, die den Weg der Christen begleiten, hat niemals die aktive Gegenwart der göttlichen Langmut gefehlt. Durch den Heiligen Geist, der in der Kirche wohnt, durch die Realpräsenz Christi in der Eucharistie und auch durch die immerwährende Fürsprache der seligsten Jungfrau Maria offenbaren sich die Ströme des Erbarmens, die beständig auf die Welt ausgegossen werden. Hören wir nicht auf, unserem himmlischen Vater dafür zu danken, öffnen wir weit die Türen unseres Herzens, und setzen wir uns ein, dass auch unsere Mitmenschen sich von der göttlichen Gnade durchtränken lassen.

Die Geschichte des barmherzigen Eingreifens Gottes

5.In seiner Enzyklika Dives in misericórdia gab der hl. Johannes Paul II. der Barmherzigkeit einen zentralen Platz im Leben der Kirche und im Leben der Menschheit. „In der endzeitlichen Vollendung wird sich das Erbarmen als Liebe offenbaren; in der Zeitlichkeit, in der menschlichen Geschichte, einer Geschichte von Sünde und Tod, muß sich die Liebe vor allem als Erbarmen offenbaren und vollziehen. Das messianische Programm Christi, sein Programm des Erbarmens, wird zum Programm seines Volkes, der Kirche. Im Mittelpunkt dieses Programms steht immer das Kreuz; denn in ihm erreicht die Offenbarung der erbarmenden Liebe ihren Höhepunkt.“[9]

In der Tat können wir das Kreuz nicht von der Auferstehung trennen, denn beide Ereignisse offenbaren die göttliche Liebe, wie auch das Erbarmen Gottes sich im ganzen österlichen Geheimnis zeigt. Der selige Paul VI. sagte, dass „die gesamte Heilsgeschichte von der göttlichen Barmherzigkeit geleitet wird, die sich dem menschlichen Elend zuwendet“[10].

Christus nahm unsere Sünden auf sich und „wurde ein einziges Mal geopfert, um die Sünden vieler hinwegzunehmen“ (Hebr 9, 28). Unsere Mutter Maria sagte in voller Freiheit Ja zur Hingabe dessen, der in allem unsere menschliche Natur angenommen hatte außer der Sünde (vgl. Hebr 4, 15) und daher in der Lage war, echtes Mitgefühl zu zeigen. Mit dem Magnificat prophezeite Maria: Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten (Lk 1, 50).

6.Meine Töchter und Söhne, wir gehören zu diesen Geschlechtern, die das Erbarmen Gottes besingen – und das macht uns froh. In seinem persönlichen Leben und in dem des Opus Dei entdeckte unser Vater stets von neuem die bevorzugende Liebe Gottes. Nicht nur einmal gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass die ganze Geschichte des Werkes eine Geschichte des barmherzigen Eingreifens Gottes ist. Weder in diesem Brief, so sagte er in den 60er Jahren, noch in vielen weiteren Schreiben, die ich verfassen könnte, wäre ich in der Lage, Gottes gütige Vorsehung erschöpfend zu beschreiben, die die Schritte des Werkes immer vorbereitet und begleitet hat.[11] In diesem Zusammenhang zögerte er nicht zu behaupten, dass man die Geschichte des Opus Dei einmal auf Knien würde schreiben müssen[12]. Mit diesem bildlichen Ausdruck unterstrich er, dass bei der Gründung und Entfaltung des Werkes die Initiative immer von Gott ausgegangen war, während es ihm nur zukam, ein treues Werkzeug des göttlichen Willens zu sein.

Es ist wirklich so, dass das Leben des hl. Josefmaria und die Existenz des Opus Dei eng miteinander verflochten sind, ohne dass man sie seit 1928 unterscheiden oder sauber trennen könnte. Im Werk hat alles Gott gemacht, sagte er in einer Betrachtung,rein menschlich gesehen, was gab es denn? Nur gute Laune, eine große Liebe zu Jesus Christus und seiner Kirche, und den Wunsch angesichts des Unmöglichen beharrlich weiterzumachen. Gott ist mit mir verfahren, wie ich es als Kind mit den Bleisoldaten gemacht habe, die ich hinstellte, wo ich wollte, und denen ich sogar manchmal den Kopf abschlug … So ist Gott mit mir umgegangen. Er hat mich die Wege geführt, die er wollte, und hat zugelassen, dass man mir derbe Hiebe versetzte, weil sie gut für mich waren.[13]

Jeden dieser Umstände nutzte unser Gründer, um seine Treue zu läutern und sich mehr den Händen Gottes zu überlassen. Wie Papst Franziskus schrieb: „Man weiß wohl, dass das eigene Leben Frucht bringen wird, beansprucht aber, nicht zu wissen wie, wo oder wann. Man hat die Sicherheit, dass keine der Arbeiten, die man mit Liebe verrichtet hat, verloren geht, dass keine der ehrlichen Sorgen um den Nächsten, keine Tat der Liebe zu Gott, keine großherzige Mühe, keine leidvolle Geduld verloren ist.“[14] Daher verlor auch unser Vater niemals den inneren Frieden: Meine Kinder, die Reue wird immer von der Liebe begleitet; und so hat mich keine dieser Aufgaben, kein Leid das gáudium cum paceverlieren lassen, denn Gott hat mich gelehrt zu lieben, und nullo enim modo sunt onerósi labóres amántium (hl. Agustinus, De bono viduitátis, 21, 26): für den, der liebt, ist die Arbeit keine schwere Last. Darum ist das Wichtige, lieben zu lernen, denn in eo quod amátur, aut non laborátur, aut et labor amátur (ibid.):Wo es Liebe gibt, macht alles glücklich. Das ist das große Erbarmen Gottes gewesen, dass er mich wie ein kleines Kind an der Hand genommen und mich lieben gelehrt hat. Als ich kaum der Kindheit entwachsen war, streute Gott in meinem Herzen einen Samen glühender Liebe aus, und diese Saat, meine Töchter und Söhne, ist heute zu einem üppigen Baum mit schlankem Stamm geworden, der mit seinem Schatten vielen tausend Menschen neue Kraft gibt.[15]

7.Der hl. Josefmaria hat sich immer so verhalten. Seine Verehrung dieses sicheren göttlichen Zufluchtsortes, den wir betrachten, war nicht neu für ihn; er hatte diese Verehrung zu Hause von seinen Eltern gelernt. Sie wurde noch stärker während der Zeit seiner Vorbereitung auf die Priesterweihe im Seminar von Logroño und in dem von San Carlos in Saragossa, wo es eine Darstellung des Herzens Jesu gab – von Flammen der Liebe eingehüllt und mit Dornen gekrönt –, die ihn tief bewegte. Später, während des spanischen Bürgerkrieges, bekam er einen neuen Zugang zu ihr, wie er bei einer Zeit des Gebetes am Vorabend des Herz-Jesu-Festes beschreibt:

Mein Gott, jetzt möchte ich mich nahe an deiner Seitenwunde sehen und an alle meine Kinder denken, an alle, die jetzt lebendige Glieder dieses lebendigen Leibes deines Werkes sind. Ich werde sie alle aufzählen und ihre Eigenschaften betrachten, ihre Tugenden, ihre Fehler. Und dann werde ich jeden Einzelnen zu dir bringen und dich bitten: „Hol sie hinein!“ Ich werde sie in dein Herz legen. So will ich es auch mit jedem und allen tun, die später im Laufe der Jahrhunderte bis zum Ende der Welt kommen werden, um Teil dieser übernatürlichen Familie zu sein. Alle vereint im Herzen Christi, alle eins geworden aus Liebe zu ihm und alle losgelöst von den Dingen der Erde durch die Kraft dieser Liebe, die von der Abtötung begleitet wird. Wir wollen wie die ersten Christen sein; wir werden ihren Geist in der Welt wieder lebendig werden lassen. Fangen wir also damit an, jene Aussage im Werk Wirklichkeit werden zu lassen: congregávit nos in unum Christi amor.[16]

In der heiligen Messe betete der hl. Josefmaria nach der Konsekration immer still das Gebet zur Barmherzigen Liebe, das er in seiner Jugend gelernt hatte. Im liebenswerten Herzen Jesu entsprang der überfließende Quell seiner Vaterschaft im Opus Dei, die sich auf seine Töchter und Söhne aller Zeiten ausweitete; und im Messopfer erfüllte er sein Herz mit dem sehnsüchtigen Verlangen Christi, die ganze Menschheit zu erlösen. Diese Gedanken können uns auch helfen, in den kritischen Momenten, die es in der Menschheitsgeschichte oder in unserem persönlichen Leben geben kann, Sicherheit und Optimismus nicht zu verlieren. Gott ist immer derselbe, er ist allmächtig, allweise, barmherzig. Er weiß in jedem Augenblick aus dem Bösen Gutes zu wirken, und für die, die auf ihn vertrauen, Niederlagen in großartige Siege zu verwandeln.

8.In den 70er Jahren, als eine schwere Glaubens- und Gehorsamskrise verheerende Schäden in den Seelen verursachte, bestärkte eine neue Erleuchtung vom Himmel den hl. Josefmaria in seinem unerschütterlichen Vertrauen auf die nie fehlende göttliche Hilfe. Am 23. August 1971 prägte Gott nach der Feier der Messe seinem Herzen Worte ein, die, mit einem kleinen Unterschied, aus dem Brief an die Hebräer stammen: Adeámus cum fidúcia ad thronum grátiæ, ut misericórdiam consequámur (Hebr 4, 16). Sofort gab er diese Eingebung an uns, die wir an seiner Seite waren, weiter; wenige Wochen später sprach er in einem vertrauten Familientreffen mit seinen Söhnen in Rom darüber:

Ich werde euch etwas sagen, von dem Gott möchte, dass ihr es wisst. Wir, Kinder Gottes im Opus Dei, adeámus cum fidúcia– sollen glaubensvoll – ad thronum glóriæ, zum Thron der Herrlichkeit, zur seligsten Jungfrau Maria, hintreten, der Mutter Gottes und unserer Mutter, die wir so oft als Sitz der Weisheit anrufen, ut misericórdiam consequámur, um Erbarmen zu finden (…).

Gehen wir also durch das Liebenswerte Herz Mariens zum Heiligen und Barmherzigen Herzen Jesu, bitten wir ihn, er möge aus Barmherzigkeit seine Macht in der Kirche erweisen und uns Kraft geben, um auf unserem Weg weiter zu gehen und ihm viele Seelen zuzuführen.[17]

Diese Gewissheit drängte ihn, ohne Unterlass im Wort der Schrift die Texte zu suchen, die das Wohlgefallen und den Schutz Gottes am besten zum Ausdruck bringen, um sie in seinem persönlichen Gebet zu betrachten. So bezog er sich ein Jahr später wiederum auf eine Entdeckung, die seiner Seele Optimismus und großes Vertrauen eingeflößt und ihm geholfen hatte, den aus seiner Liebe zur Kirche erwachsenden Schmerz, der ihm unendliches Leid bereitete, zu überwinden.

In letzter Zeit, sagte er damals,betrachte ich häufig Texte der Heiligen Schrift, die von Gottes Erbarmen erzählen. Mir ist wohlbekannt, dass die Bibelforscher diesem Wort verschiedene Bedeutungen unterlegen, so dass sie unter Barmherzigkeit nicht nur verstehen, was gemeinhin damit ausgesagt wird, also Mitleid, Mitgefühl, sondern auch eine Art Loyalität Gottes gegenüber seinen Geschöpfen.

Ist das nicht schön? Gott unser Herr hat solches Mitleid mit den Menschen – denn sein Erbarmen bedeutet auch Mitleid –, dass seine Loyalität ihn dazu führt, mit jedem von uns barmherzig zu sein, uns mit väterlicher und mütterlicher Liebe anzuschauen.[18]

Immer tiefer drang er in die Worte der Heiligen Schrift ein, die er bereits als junger Mann betrachtet hatte: Gott hat Freude an den Menschenkindern (vgl. Spr 8, 31); diese Aussage verlieh ihm Sicherheit bei seinem Einsatz für die Verwirklichung des Opus Dei; als er keinerlei Mittel besaß, bestärkte ihn dieses „Wohlgefallen“ Gottes in seiner Gewissheit, dass das Werk Wirklichkeit werden würde.

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

9.Unter den Gleichnissen, mit denen der Meister den Jüngern die Kennzeichen des Himmelreiches erklärte, greift der hl. Lukas – von einem der großen christlichen Dichter der Verkünder der Milde Christi genannt[19] – drei heraus, die ganz ausdrücklich unterstreichen, wie nahe Gott den Seinen ist. Es sind dies das Gleichnis vom verlorenen Schaf, von der verlorenen Drachme und vom verlorenen Sohn. In diesen drei Erzählungen „offenbart Jesus die Natur Gottes als die eines Vaters, der nie aufgibt, bevor er nicht mit Mitleid und Barmherzigkeit die Sünde vergeben und die Ablehnung überwunden hat“[20].

Dieses liebende Herz offenbart sich in besonderer Weise im Gleichnis vom Vater, der geduldig Tag für Tag die Rückkehr des undankbaren Sohnes erwartet, um ihm zu verzeihen, sobald er kommt. Der hl. Johannes Paul II. sprach in seiner Enzyklika Dives in misericórdia eindringlich darüber und betonte, wie diese Lehre auf alle und jedes einzelne Menschenwesen anzuwenden ist: „Die Parabel bezieht sich indirekt auf jeden Bruch des Liebesbundes, auf jeden Verlust der Gnade, auf jede Sünde. (…) Das Vermögen, welches der Sohn vom Vater empfangen hatte, war eine Quelle materieller Güter; aber wichtiger als diese Güter war seine Würde als Sohn im Haus des Vaters (…), der Verlust dieser Würde, die ihm zu Bewußtsein kam.“[21]

Auch von unserem Vater gibt es einen Kommentar zu dieser Stelle: Das Erbarmen, das Gott zeigt, muss uns immer zur Rückkehr ermutigen. Meine Kinder, es ist natürlich besser, nicht von seiner Seite zu weichen, ihn nicht zu verlassen; aber wenn ihr euch einmal aus menschlicher Schwäche von ihm trennt, dann kommt eilends zurück. Er wird euch immer aufnehmen und wie der Vater den verlorenen Sohn und euch sogar noch inniger lieben.[22]

Obwohl im Originaltext – so schreibt der heilige Johannes Paul II. – nicht das Wort „Gerechtigkeit“ und auch nicht „Barmherzigkeit“ benutzt wird, soist das Verhältnis der Gerechtigkeit zur Liebe, die sich als Erbarmen kundtut, dem Inhalt der evangelischen Parabel in großer Genauigkeit eingeschrieben. Sie macht deutlich, dass die Liebe zum Erbarmen wird, wenn es gilt, die – genaue und oft zu enge – Norm der Gerechtigkeit zu überschreiten.[23]

Für den hl. Josefmaria gab es für diese lebendige Verbindung von Gerechtigkeit und Liebe kein besseres Beispiel als das Verhalten einer Mutter.[24] Für ihnfloss Gottes Gerechtigkeitüber von Erbarmen[25]. Wir können uns nicht an Gott wenden und uns dabei auf Rechte berufen, sondern wir müssen ihn bitten, Erbarmen mit uns zu haben, wie es in einem der Psalmen heißt: Miserére mei, Deus, secúndum magnam misericórdiam tuam(Ps51, 3). Gott, sei mir gnädig nach deinem reichen Erbarmen. Wir gehen nicht zu ihm und stellen Forderungen aus Gerechtigkeitsgründen.[26]

10.Es gibt allerdings Menschen, für die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einen Gegensatz bilden. Bei der Ausrufung des Jubiläums hat der Papst uns vor diesem Irrtum gewarnt: „Es handelt sich dabei nicht um zwei gegensätzliche Aspekte, sondern um zwei Dimensionen einer einzigen Wirklichkeit, die sich fortschreitend entwickelt, bis sie ihren Höhepunkt in der Fülle der Liebe erreicht hat (…).

Angesichts einer Sicht der Gerechtigkeit als der bloßen Einhaltung von Gesetzen, die in der Folge Menschen in Gerechte und Sünder einteilt, versucht Jesus die große Gabe der Barmherzigkeit aufzuzeigen, die Barmherzigkeit, die den Sünder sucht und ihm Vergebung und Heil anbietet. Man versteht, warum Er aufgrund einer solchen befreienden Vision, die Quelle der Erneuerung ist, von den Pharisäern und Schriftgelehrten abgelehnt wird.“[27]

Unsere Zuflucht zum göttlichen Erbarmen nehmen

11.Als Frucht einer besonderen Gnade Gottes – ich erwähnte es bereits – verstand unser Gründer die wunderbaren Funken der göttlichen Milde, die in der Heiligen Schrift beschrieben werden, immer tiefer. Das Wunder der Auferweckung des Sohnes der Witwe von Naim veranlasste ihn zum Beispiel zu der Überlegung, dass unser Herr uns aus heiligen Gründen liebte, die uns vielleicht nicht bewegen würden. Lukas schreibt: misericórdia motus super eam(Lk7, 13), er war von Mitleid, von Erbarmen mit jener Frau bewegt. Eigentlich gab es andere menschlich verständliche Gründe, etwa dass sie arm war, dass sie Witwe war und nur jenen einzigen Sohn gehabt hatte.[28]

Eine große Menschenmenge bildete jenen Trauerzug und weitere Menschen begleiteten Jesus; aber nur er bemerkt das Leid, den Schmerz jener Mutter und geht ihr entgegen. Ist das nicht bewundernswürdig, dass der Meister sich spontan von seinem barmherzigen Herzen bewegen lässt, ohne zu warten, dass wir ihm unsere Bedürfnisse darlegen? Dieses göttliche und menschliche Verhalten des Erlösers ist ein Impuls, ihn in jedem Augenblick um Hilfe zu bitten. Ihr und ich, präzisierte unser Vater,wir sollen auch unsere Zuflucht zur göttlichen Barmherzigkeit nehmen. Vor Gott haben wir keinerlei Rechte. Zumindest ich persönlich sehe in aller Klarheit, dass ich ihm nicht sagen kann: Herr, gib mir das; auch wenn ich weiß, dass ich sein Sohn bin und mich als solcher fühle. Ich komme zu ihm mit Seufzern der Reue und bitte um Erbarmen[29], berufe mich auf sein Mitgefühl.

In seinen letzten Jahren auf der Erde fühlte er den Drang, sich mit noch größerem Vertrauen und Eifer an die Vergebungsbereitschaft Gottes zu wenden. Das führte ihn dazu, das Stoßgebet zu vervollständigen, mit dem er sich 1952 an das Heiligste Herz Jesu gewandt hatte, um ihm das Werk mit seinen apostolischen Arbeiten, die Bedürfnisse der Kirche und der ganzen Menschheit zu weihen. Cor Iesu Sacratíssimum et Miséricors, dona nobis pacem! Seit damals wandte unser Vater sich Tag und Nacht noch mehr an Gott mit der inständigen Bitte um Schutz für die Welt, die Kirche und die Seelen.

In diesen Bitten finden wir die wichtigste Frucht, die wir im Jahr der Barmherzigkeit von Gott erflehen: die Gesellschaft möge wieder auf dem Weg der Gebote gehen, die Seelen mögen sich wieder vom Feuer der Gottesliebe entzünden lassen, in allen Winkeln der Kirche möge von neuem die klare Lehre und die echte Frömmigkeit ihren Einzug halten. Gerne mache ich mir die folgenden Worte des Papstes zu eigen: „Wie sehr wünsche ich mir, dass die kommenden Jahre durchtränkt sein mögen von der Barmherzigkeit und dass wir auf alle Menschen zugehen und ihnen die Güte und Zärtlichkeit Gottes bringen! Alle, Glaubende und Fernstehende, mögen das Salböl der Barmherzigkeit erfahren, als Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist.“[30]

Barmherzig sein wie der Vater im Himmel

12.Die Kirche ist ohne Unterlass von dem Wunsch beseelt, Gottes Liebe zu den Menschen zu bringen, ohne irgendjemanden auszuschließen. Trotzdem kann Papst Franziskus feststellen, dass „wir es vielleicht für lange Zeit vergessen haben, auf den Weg der Barmherzigkeit hinzuweisen und ihn zu gehen. Auf der einen Seite hat die Versuchung, stets und allein die Gerechtigkeit zu fordern, uns vergessen lassen, dass diese nur der erste Schritt ist. Dieser Schritt ist zwar notwendig und unerlässlich, aber die Kirche muss darüber hinausgehen um eines höheren und bedeutungsvolleren Zieles willen.“[31]

Es genügt nicht, Gott für unsere Sünden und für die aller Menschen um Verzeihung zu bitten. Zu dieser unersetzlichen Bitte muss unbedingt die konkret gelebte Barmherzigkeit mit dem Nächsten hinzukommen. Denn wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben (1 Joh 4, 20-21).

Die Werke der Barmherzigkeit, die in der Kirche immer neu gepredigt und praktiziert worden sind, bieten uns einen gangbaren Weg, um die guten Absichten mit konkreten Taten zu beweisen. „Es sind Liebestaten, durch die wir unserem Nächsten in seinen leiblichen und geistigen Bedürfnissen zuhilfe kommen“[32], erläutert der Katechismus der Katholischen Kirche. Sie eifrig zu leben gehört zu einer der Empfehlungen des Papstes für dieses Jahr. „Die Verkündigung Jesu nennt uns diese Werke der Barmherzigkeit, damit wir prüfen können, ob wir als seine Jünger leben oder eben nicht.“[33]

Jesus hat das ganz eindeutig im Evangelium beschrieben und ein unübersehbares Kriterium festgelegt: Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen.

Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid also barmherzig, wie es auch euer Vater ist (Lk 6, 31-36).

Die leiblichen Werke der Barmherzigkeit

13.Die katholische Lehre hat die leiblichen Werke folgendermaßen zusammengefasst: „Die Hungrigen speisen, Obdachlose beherbergen, Nackte bekleiden, Kranke und Gefangene besuchen und Tote begraben. Unter diesen Werken ist das Almosenspenden an Arme eines der Hauptzeugnisse der Bruderliebe; es ist auch eine Gott wohlgefällige Tat der Gerechtigkeit.“[34] Alle stellen letztendlich eine Ausübung des mandatum novum (Joh 13, 34) dar, des neuen Gebotes der Liebe, das Christus uns gegeben hat. Im Gehorsam gegenüber dieser Empfehlung des Heilandes hat die Kirche immer eine Vorliebe für die Armen, die Kranken, die Verlassenen und die Obdachlosen gezeigt. Und sie hatte stets jene Worte des Herrn beim Endgericht vor Augen: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25, 40). Mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters hat Jesus zudem klargemacht, dass unsere Nächstenliebe sich auf jedes menschliche Wesen bezieht.

14.Im Opus Dei, einem lebendigen Teil der Kirche, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass wir die leiblichen Werke der Barmherzigkeit niemals unterlassen sollen. Unser Gründer hat sie bereits in den ersten Jahren des Werkes gepflegt. Er besuchte die Kranken in den Hospitälern von Madrid, er widmete sich großzügig den Armen in den Elendsvierteln und denen, die verschämt ihre Not unter dem Schleier einer scheinbar normalen Existenz verbargen. Und er lehrte alle, die mit seiner apostolischen Arbeit in Kontakt kamen, dasselbe zu tun. Diese Tätigkeiten vertraute er der Muttergottes an, und so entstanden im Opus Dei die Besuche bei den Armen der Jungfrau Maria, die weiterhin überall praktiziert werden, wo es Gläubige der Prälatur gibt. Am Samstag, dem Tag Mariens, lädt man die jungen Leute ein, Almosen zu geben, die dazu benutzt werden, bedürftigen Menschen zu helfen. Wenn man den Armen hilft, ehrt man Maria und übt die Nächstenliebe[35]. Sie sind ein Bildungsmittel, denn sie fördern die Großzügigkeit der jungen Menschen und lassen sie in der Liebe wachsen.

Da er stets in die Schule der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen ging, schmerzte es den hl. Josefmaria sehr, mitzuerleben, wie die Reichtümer der Erde unter einige wenige verteilt sind, die Bildungsgüter einem kleinen Kreis vorbehalten und vor der Tür Hunger nach Brot und Wissen herrscht. Draußen menschliches Leben, das heilig ist, weil es von Gott kommt, und das behandelt wird wie eine Sache, wie Zahlen in einer Statistik. Ich verstehe und teile diese Ungeduld, eine Ungeduld, die mich drängt, auf Christus zu schauen, der uns ständig auffordert, jenes neue Gebot der Liebe zu verwirklichen. (…)

Wir müssen in unseren Menschenbrüdern Christus erkennen, der auf uns zukommt. Kein menschliches Leben ist isoliert, sondern es ist mit dem anderer verflochten. Kein Mensch ist ein einzelner Vers, sondern sie sind alle Teil desselben göttlichen Gedichtes, das Gott mit der Unterstützung unserer Freiheit verfasst.[36]

Wie viele Jugendliche – Jungen wie Mädchen, und auch Erwachsene – haben beim Anblick der ungeheuren Armut eines Menschen in diesen Brüdern oder Schwestern den armen Christus entdeckt und daraufhin eine größere Bereitschaft entwickelt, für die anderen da zu sein! Und Gott, dessen Großzügigkeit die unsrige weit übersteigt, hat ihre Seele mit besonderen Gnaden überhäuft: Eine tiefgehende Bekehrung, die viele erfahren haben, Entscheidungen zu einer Ganzhingabe im Dienst an Gott und an der Kirche … Nur er kennt die aus der Wärme dieser Besuche bei Notleidenden, Alten, Kranken, Gefangenen erwachsenen Schritte.

15.Im Werk Gottes, das sich dank der apostolischen Spontaneität der Gläubigen und Mitarbeiter des Opus Dei fortschreitend entwickelt hat, haben Initiativen zur materiellen Unterstützung des Nächsten je nach den Zeitumständen und den örtlichen Gegebenheiten neue Formen angenommen. So sind auf dem Land und am Rand der Großstädte Schulen zur Berufsbildung für Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten und medizinische Ambulanzen und Krankenhäuser für Leute ohne finanzielle Mittel in den Armenvierteln und Slums entstanden; außerdem haben soziale Hilfseinrichtungen zugenommen – wie etwa die NGO’s für Entwicklungshilfe in Ländern der Dritten Welt oder Armenküchen in als eher fortschrittlich zu bezeichnenden Ländern, um nur einige Beispiele zu nennen –, die in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wie wir sie heute erleben, vielen Menschen ermöglichen, die eigene Not und die ihrer Familie zu lindern.

Ich danke Gott für die Ausbreitung solidarischer Hilfsmaßnahmen durch Gläubige und Mitarbeiter der Prälatur. Aber das darf uns nicht genügen! Es ist daher unser Bestreben, mit der Gnade Gottes und der Unterstützung vieler Menschen mit gutem Herzen, seien sie nun Christen oder nicht, den Aktionsradius solcher Projekte zu erweitern.

16.Lasst mich noch einmal auf meinen Wunsch zurückkommen, dass Ihr Euch in besonderer Weise um die Kranken sorgt, sei es in ihrem Zuhause, im Krankenhaus oder wo auch immer jemand an Leib oder Seele leidet; selbstverständlich auch in den Zentren des Werkes und in den Familien der Assoziierten und Supernumerarier. Denn in jedem Leidenden ist in besonderer Weise Christus gegenwärtig.

Außer dass wir uns um den nötigen ärztlichen Beistand kümmern, gilt es vor allem, ihnen geistlich beizustehen: die Priester müssen ihnen den Empfang des Bußsakramentes und der Eucharistie ermöglichen; die Laien können den Kranken mit ihrem Beispiel und ihrem Rat zur Seite stehen, damit sie – im angemessenen Maß – das Beten in seinen verschiedenen Formen – Betrachtung, Danksagung, Lob und Bitte – nicht vernachlässigen. Ich denke da an das Rosenkranzgebet und andere Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit, die selbst im Schmerz froh machen. Die Kranken werden dankbar sein zu erfahren, dass sie ihre Krankheit und die sie begleitenden Schmerzen und Begrenzungen Gott aufopfern können und so in ihrem irdischen Leben für den Leib Christi, die Kirche, das ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1, 24). Mit diesen Worten wies der hl. Paulus auf den erlösenden Wert des Leidens hin.[37]

Wenn der Zustand eines Kranken sich in besonderer Weise verschlimmert, ist der Augenblick gekommen, ihn auf den möglichst fruchtbaren Empfang der Krankensalbung vorzubereiten. Die Kirche lehrt, dass dieses Sakrament der Barmherzigkeit die Kraft hat, die Sünden zu vergeben, und zur Besserung oder sogar Heilung des Leibes beiträgt, wenn das für diesen Menschen gut ist.[38] Die Jahrhunderte alte Tradition der Kirche hat gezeigt, dass dieses Sakrament denen großen Frieden und Gelassenheit vermittelt, die es in der rechten inneren Verfassung empfangen und nicht damit warten, bis sie im Sterben liegen. Es steht eine gründliche Katechese an für die Familien, die oftmals – sei es aus Unwissenheit oder aus einer falschen Angst heraus, die Kranken zu erschrecken – nicht den Priester rufen oder seinen Beistand erst erbitten, wenn die Angehörigen nicht mehr bei Bewusstsein sind.

17.Im Laufe der Zeit sind einige Werke der leiblichen Barmherzigkeit umbenannt oder anders praktiziert worden. „Die Fremden aufnehmen“ wird heute als „den Obdachlosen eine Bleibe geben“ formuliert. Heutzutage schließt dieses Werk die Unterstützung von Migranten ein, die auf der Suche nach Arbeit oder besseren Lebensbedingungen usw. ihr Land verlassen. Kein Jünger des Meisters kann davon absehen, sich diesen Männern oder Frauen, manchmal ganze Familien, zuzuwenden. Dabei denke ich vor allem an die wegen ihres Glaubens verfolgten Christen, deren Exil in uns den Sinn für die Gemeinschaft der Heiligen wecken sollte.

Papst Franziskus hat an die Verantwortlichen und an alle Menschen guten Willens einen dringenden Appell gerichtet, dieser spezifischen Notlage abzuhelfen. Schon im Schreiben Evangelii gaudium bat er uns: „Es ist unerlässlich, neuen Formen von Armut und Hinfälligkeit – den Obdachlosen, den Drogenabhängigen, den Flüchtlingen, den eingeborenen Bevölkerungen, den immer mehr vereinsamten und verlassenen alten Menschen usw. – unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Wir sind berufen, in ihnen den leidenden Christus zu erkennen und ihm nahe zu sein, auch wenn uns das augenscheinlich keine greifbaren und unmittelbaren Vorteile bringt. Die Migranten stellen für mich eine besondere Herausforderung dar, weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin, die sich als Mutter aller fühlt.“[39] Und noch vor kurzem hat er diesen dringenden Aufruf im Rahmen der unmittelbaren Vorbereitung des Heiligen Jahres mit Nachdruck wiederholt.[40]

Greifen wir diese Forderungen des Heiligen Vaters auf und ermuntern wir Angehörige, Freunde und Bekannte, sie im Maß der persönlichen Lebensumstände und Möglichkeiten aufzugreifen. Sie sollten dafür beten und sich fragen, wie sie selber Hilfe leisten können, angefangen von Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in dieser Notsituation bis zur Bereitstellung einer Unterkunft, eines Arbeitsplatzes, einer finanziellen Unterstützung usw. Auch wenn wir immer in eigener Verantwortung handeln, ist es doch auch eine gute Möglichkeit, diesem Aufruf nachzukommen, indem man sich für die Initiativen der Bistümer und der Pfarreien einsetzt, denen der Papst in besonderer Weise diese Arbeit anvertraut hat. Mir ist wohlbekannt, dass viele von Euch wie auch Mitarbeiter und Freunde bei konkreten Maßnahmen im Dienst an den Flüchtlingen bereits im Einsatz sind. Dafür danke ich Euch im Namen Jesu Christi, denn das, was wir diesen unseren Brüdern oder Schwestern Gutes tun, tun wir unserm Herrn selbst.

Die Werke der geistigen Barmherzigkeit

18.Der hl. Josefmaria hat uns einmal gesagt: Ich wage zu behaupten, dass, wenn die Umstände einer geschichtlichen Epoche das Elend oder den Schmerz überwunden zu haben scheinen, die einfühlsame christliche Brüderlichkeit um so wichtiger wird, die zu erahnen weiß, wo jemand Trost braucht, selbst mitten im scheinbaren allumfassenden Wohlstand.[41]

Denken wir also daran, dass die Gesten der Nächstenliebe sich nicht auf eine materielle Unterstützung beschränken, so notwendig sie auch sein mögen. Der Papst beklagt, dass „die schlimmste Diskriminierung, unter der die Armen leiden, der Mangel an geistlicher Zuwendung ist“[42]. Ein Kennzeichen der Kirche ist im Laufe ihrer Geschichte die Förderung der Werke der geistigen Barmherzigkeit gewesen, die immer wirklichkeitsbezogen und aktuell sind: „Den Zweifelnden recht raten, die Unwissenden lehren, die Sünder zurechtweisen, die Betrübten trösten, Beleidigungen verzeihen, die Lästigen geduldig ertragen und für die Lebenden und Verstorbenen zu Gott beten.“[43]

Welch feinfühlige Widmung liegt in dieser geistigen Nächstenliebe! Und wie unabdingbar ist sie in unserer Zeit, in der so viele Menschen unter Einsamkeit, Unverständnis, Verfolgung, übler Nachrede und Verleumdung leiden; wie viele kämpfen mit Zweifeln, weil sie den Weg nicht kennen, der zum Himmel führt. Denn die allgemeine Verfügbarkeit der gesellschaftlich organisierten Maßnahmen gegen die weit verbreiteten Krankheiten oder Notsituationen, die heutzutage eine flächendeckende humanitäre Hilfe erlauben, von der andere Epochen nicht einmal zu träumen wagten, wird niemals die – menschliche und übernatürliche – Wirksamkeit der unmittelbaren Anteilnahme am Nächsten ersetzen können, weil diese Sozialhilfen auf einer anderen Ebene liegen. Es bedarf der persönlichen Berührung mit dem Armen aus dem nahen Viertel, mit dem Kranken, der, seinem Schmerz ausgeliefert, in einem riesigen Krankenhaus liegt, oder mit dem Menschen, der – obwohl vielleicht reich – eine Weile liebevollen Gesprächs braucht, eine Geste christlicher Freundschaft, die seine Einsamkeit unterbricht, eine geistliche Stütze, die seine Zweifel und seine Skepsis heilt.[44]

Erinnern wir uns an jene Bettlerin, der der hl. Josefmaria sich nur als Priester und Mensch widmen und geistlich helfen konnte. Im Gegenzug entschloss sich diese Frau, ihr Leben für das Werk aufzuopfern. Als er sie später in einem Krankenhaus wiedersah und erfuhr, was jene arme Frau Gott angeboten hatte, bezeichnete er sie als die erste Berufung unter seinen zukünftigen Töchtern.

19.Von den zahlreichen Werken christlicher Solidarität oder Brüderlichkeit will ich nur einige näher beleuchten: die Unwissenden lehren, den Zweifelnden recht raten, Beleidigungen verzeihen. Sie alle sind Zeichen einer feinfühligen Liebe, die wir allen entgegenbringen sollten, besonders aber denjenigen, die uns nahestehen, den Mitgliedern unserer Familie, den Freunden, den Berufskollegen, den Bekannten …

Demjenigen die Wahrheiten unseres Glaubens vermitteln, dem sie unbekannt sind, ist ein äußerst bedeutender Beweis von Barmherzigkeit. Unser Gründer fasste diesen Akt in wenigen Worten so zusammen: Unsere wichtigste Aufgabe ist es, Lehre zu erteilen. Er betonte häufig, dass der größte Feind Gottes und der Seelen die religiöse Unwissenheit ist und charakterisierte die Arbeit des Opus Dei als eine große Katechese, die bewirkt, dass die Heilsbotschaft der Kirche alle Menschen erreichen kann und dass sie lernen, sie in ihr Leben zu integrieren. Sei überzeugt: Dein Apostolat besteht darin, Güte und Licht und Begeisterung auszustrahlen, mit deiner Großzügigkeit und Opferbereitschaft, mit deinem Fleiß und deiner Gewissenhaftigkeit andere anzustecken, durch das Beispiel eines grenzenlos hingegebenen Herzens, durch Weltkenntnis und ehrlichen, freudigen Gehorsam gegenüber der Kirche Beispiel zu geben.[45]

Dieses umfassende Vorhaben verlangt ein großes Engagement, um den Menschen, mit denen wir in Beziehung stehen, die angemessene doktrinäre, geistliche und apostolische Bildung zu vermitteln. Aber welche Freude bereitet es, wenn die Wahrheit des Evangeliums unsere verschiedenen Aufgabenbereiche in Beruf, Gesellschaft und Kultur mit ihrem Licht erhellt!

Verstärken wir in diesem Jahr der Barmherzigkeit unser Bemühen, dass viele Menschen mit der Wärme der Kirche, der Braut Christi und unserer Mutter, in Berührung kommen. Wir werden das mit Gottes Hilfe erreichen, wenn jeder und jede von uns sich persönlich dafür einsetzt, mehr Freunde, Kollegen und Bekannte zu den Bildungsmitteln zu bringen.

20.Die Art und Weise, jemandem einen Rat zu erteilen, der ihn braucht, hängt ebenfalls von den Umständen ab. An erster Stelle wirkt das Zeugnis unseres Verhaltens. So machte es Christus, als er auf unserer Erde weilte, wie uns der hl. Josefmaria beständig ins Bewusstsein rief. Unser Vater verweilte gerne bei diesem Beispiel anhand der Worte, mit denen die Apostelgeschichte beginnt: Jesus begann zu tun und zu lehren (Apg 1, 1). Das Zeugnis des eigenen Verhaltens wird dann die Gelegenheit herbeiführen, das angebrachte Wort klar und liebevoll zu sagen, das wir, ohne zu verwunden, ins Ohr unserer Freunde oder Bekannten sprechen. Das ist das Apostolat der Freundschaft und des vertraulichen Gesprächs, auf welches unser Vater einen so großen Wert legte.

Wie fruchtbar ist diese Kohärenz zwischen dem, was man tut, und dem, was man sagt! Manchmal wird dieser Rat die Form der brüderlichen Zurechtweisung annehmen, wie wir aus dem Evangelium lernen (vgl. Mt 18, 15-17). Es ist ein edles, mutiges und fruchtbares Werk der Barmherzigkeit, das aus der Liebe, aus dem echten Interesse für den Freund oder die Freundin geboren ist.

Zu diesem Thema bemerkte Benedikt XVI.: „Heutzutage ist man generell sehr empfänglich für das Thema der Fürsorge und der Wohltätigkeit zugunsten des leiblichen und materiellen Wohls der Mitmenschen, die geistliche Verantwortung gegenüber den Brüdern und Schwestern findet hingegen kaum Erwähnung. Anders war dies in der frühen Kirche und ist es in den wirklich im Glauben gereiften Gemeinden, wo man sich nicht nur der leiblichen Gesundheit der Brüder und Schwestern annimmt, sondern mit Blick auf ihre letzte Bestimmung auch des Wohls ihrer Seele. (…) Es ist wichtig, sich wieder auf diese Dimension der christlichen Nächstenliebe zu besinnen.“[46] Und er fügte hinzu: „Vor dem Bösen darf man nicht schweigen. Ich denke hier an die Haltung jener Christen, die sich aus menschlichem Respekt oder einfach aus Bequemlichkeit lieber der vorherrschenden Mentalität anpassen, als ihre Brüder und Schwestern vor jenen Denk- und Handlungsweisen zu warnen, die der Wahrheit widersprechen und nicht dem Weg des Guten folgen.“[47]

Seien wir dem hl. Josefmaria dankbar, dass er uns immer wieder an die Wirksamkeit dieser vom Evangelium gelehrten Praxis erinnert hat, die eine ausgesprochen sinnvolle und gute Art ist, dem Nächsten gewohnheitsmäßig zu helfen, geboren aus der Liebe und erteilt mit wahrer Demut und übernatürlicher Klugheit.

„Die christliche Zurechtweisung hat ihren Beweggrund jedoch niemals in einem Geist der Verurteilung oder der gegenseitigen Beschuldigung; sie geschieht stets aus Liebe und Barmherzigkeit und entspringt einer aufrichtigen Sorge um das Wohl der Brüder und Schwestern. Der Apostel Paulus sagt: ‚Wenn einer sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, meine Brüder, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut wieder auf den rechten Weg bringen. Doch gib acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst‘ (Gal 6, 1).

In unserer vom Individualismus durchdrungenen Welt ist es notwendig, die Bedeutung der brüderlichen Zurechtweisung wiederzuentdecken, um gemeinsam den Weg zur Heiligkeit zu beschreiten.“[48]

21.Die uns zugefügten Beleidigungen verzeihen ist eine andere wunderbare Art, die Nächstenliebe zu üben. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden. Gebt, dann wird auch euch gegegben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließenden Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden (Lk 6, 37-38). Erinnern wir uns an das Gleichnis von dem Mann, der nicht bereit war, seinem Arbeitskameraden eine winzige Schuld zu erlassen, nachdem sein Herr ihn gerade von der Zahlung einer immensen Summe befreit hatte. Wie reagierte der Herr auf dieses Verhalten? Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen? Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe. Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt (Mt 18, 32-35).

Die Beleidigungen zu verzeihen ist ein klares Anzeichen dafür, dass wir Kinder Gottes sind und uns als solche verhalten. Löschen wir also in uns die Erinnerung an uns zugefügte Beleidigungen, an erlittene Demütigungen, mögen sie noch so ungerecht, ungehörig und grob gewesen sein; denn ein Kind Gottes führt nicht Buch darüber, um die ganze Liste später einmal vorzulegen. Wir dürfen das Beispiel Christi nicht vergessen.[49] Bei der Beschreibung der Passion des Herrn schreibt Lukas: Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23, 33-34).

Natürlich fällt uns diese Art zu reagieren vielleicht nicht leicht; aber die Gnade Gottes macht sie zu einem gangbaren Weg, wie es am Verhalten vieler Christen abzulesen ist, die von den ersten Zeiten der Kirche an – und auch heute – nicht nur Nachsicht geübt, sondern ihren Verfolgern aufrichtig vergeben haben. Ganz auf dieser Linie fasste der hl. Josefmaria den festen, unverrückbaren Entschluss, immer und in jedem Augenblick zu verzeihen, was er außerdem mit seinem Wort und seinem Beispiel bekräftigte.

Den Feind nicht hassen, Böses nicht mit Bösem vergelten, auf Rache verzichten, verzeihen und nichts nachtragen: damals, aber auch – täuschen wir uns nicht – heute, sah man darin ein ungewohntes, allzu heroisches und beinahe unnormales Verhalten. Soweit reicht die Mittelmäßigkeit der Geschöpfe. Jesus Christus, der zum Heil aller gekommen ist und die Christen an seinem Erlösungswerk teilhaben lassen möchte, wollte seine Jünger – dich und mich – eine große und aufrichtige, weit edlere und stärkere Liebe lehren: Wir müssen einander lieben, wie Christus jeden von uns geliebt hat. Nur auf diese Weise, indem wir – unbeholfen, wie wir sind – die göttliche Liebe nachahmen, wird es uns gelingen, unser Herz allen Menschen zu öffnen und sie auf eine ganz neue, höhere Weise zu lieben.[50]

Wir werden auf der Grundlage unserer Werke der Barmherzigkeit gerichtet werden: „Haben wir dem Hungrigen zu essen gegeben und dem Durstigen zu trinken? Haben wir Fremde aufgenommen und Nackte bekleidet? Hatten wir Zeit, um Kranke und Gefangene zu besuchen? (vgl. Mt 25, 31-45). Genauso werden wir gefragt werden, ob wir geholfen haben, den Zweifel zu überwinden, der Angst schüren und oft auch einsam machen kann. Waren wir fähig, die Unwissenheit zu besiegen, in der Millionen Menschen leben, besonders die Kinder, denen es an der notwendigen Hilfe fehlt, um der Armut entrissen zu werden? Waren wir denen nahe, die einsam und bekümmert sind? Haben wir denen vergeben, die uns beleidigt haben, und jede Art von Groll und Hass abgewehrt, die zur Gewalt führen? Hatten wir Geduld nach dem Beispiel Gottes, der selbst so geduldig mit uns ist? Und schlussendlich, haben wir unsere Schwestern und Brüder im Gebet dem Herrn anvertraut? In einem jeden dieser ‚Geringsten‘ ist Christus gegenwärtig. Sein Fleisch wird erneut sichtbar in jedem gemarterten, verwundeten, gepeitschten, unterernährten, zur Flucht gezwungenen Leib … damit wir Ihn erkennen, Ihn berühren, Ihm sorgsam beistehen. Vergessen wir nicht die Worte des heiligen Johannes vom Kreuz: ‚Am Abend unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden‘.“[51]

Das Apostolat der Beichte

22.Ein weiteres Werk der geistigen Barmherzigkeit, das ebenfalls von besonderer Bedeutung ist, besteht darin, den Mensch zu helfen, die durch die Sünde verlorene Freundschaft mit Gott wiederzuerlangen. Wie nachdrücklich bestand der hl. Josefmaria – und gleichermaßen der selige Alvaro del Portillo – auf dem Apostolat der Beichte. Auch ich habe oft über dieses Thema gesprochen, denn es gibt für niemanden die Möglichkeit, Fortschritte in der Erkenntnis Christi und in der Liebe zu ihm zu machen, ohne auf die Reinheit seiner Seele zu achten, das heißt, ohne häufig zum Sakrament der Buße zu gehen.

Der Papst spricht oft von diesem Sakrament. In der Bulle zum Jubiläum gibt er folgenden Hinweis: „Mit Überzeugung stellen wir das Sakrament der Versöhnung erneut ins Zentrum, denn darin können wir mit Händen die Größe der Barmherzigkeit greifen. Das Sakrament wird für jeden Bußfertigen eine Quelle wahren inneren Friedens sein.“[52]

Betrachten wir auch den Rat, den der Gründer des Opus Dei aus tiefster Seele seinen Kindern gab, die Priester waren, und der für alle Priester gilt: Die vorherrschende Leidenschaft der Priester des Opus Dei (…) ist es, Lehre zu erteilen, Menschen geistlich zu leiten, das heißt zu predigen und Beichte zu hören. Darin sollt ihr euch verausgaben, ohne Angst vor Erschöpfung, ohne Sorge um die Schwierigkeiten: qui séminant in lácrimis, in exsultatióne metent (Ps 125, 5);die mit Tränen säen, werden mit Freude ernten. Die Aufgabe der Laien, meiner Söhne und meiner Töchter, besteht darin, ihre Priesterbrüder mit Arbeit – und das bedeutet, mit Glück – zu überhäufen, indem sie viele Leute zu ihnen führen.[53]

23.Die Beichtväter sind bereits als solche „ein wahres Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit“, schreibt der Heilige Vater. „Beichtvater ist man nicht einfach so. Man wird es, und zwar besonders dadurch, dass wir zunächst für uns selbst bußfertig Vergebung suchen. Vergessen wir nie, dass Beichtvater zu sein bedeutet, an der Sendung Jesu teilzuhaben und ein greifbares Zeichen der bleibenden göttlichen Liebe zu sein, die verzeiht und rettet (…).

Wir sind nicht Herren dieses Sakramentes, sondern treue Verwalter der Vergebung Gottes“, fährt Papst Franziskus fort. „Jeder Beichtvater soll die Gläubigen aufnehmen, wie der Vater im Gleichnis den verlorenen Sohn: Es ist ein Vater, der dem Sohn entgegen kommt, obwohl dieser ja seine Güter verschwendet hat. Die Beichtväter sollen den reumütigen Sohn, der nach Hause zurückkehrt, umarmen und ihre Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass sie ihn wiedergefunden haben. Sie werden auch nicht müde, zum anderen Sohn zu gehen, der draußen geblieben ist und dem es nicht gelingt, sich zu freuen. Ihm erklären sie, dass sein hartes Urteil ungerecht ist und dass es vor der grenzenlosen Barmherzigkeit des Vaters nicht bestehen kann.“[54]

Meine Töchter und Söhne, bitten wir Gott, er möge uns zu treuen Werkzeugen seiner Barmherzigkeit machen. Die Priester entsprechen dieser Aufgabe, wenn sie viele Stunden – alle, die ihnen zur Verfügung stehen – damit verbringen, im Namen Gottes zu vergeben; und die Laien, wenn sie mit ungebrochenem Eifer, voll aufrichtiger und selbstloser Zuneigung, die Seelen ihrer Freunde und Bekannten auf das Sakrament der Freude und des Friedens vorbereiten und ihnen helfen, viel Frucht daraus zu ziehen.

24.Damit möchte ich schließen. Ich lege Euch ans Herz, die Bulle Misericórdiæ vultus aufmerksam zu lesen und zu betrachten, um dann Eure eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Dort wird auch erwähnt, dass wir zu einem Marienheiligtum pilgern sollen, um das von der Kirche gewährte Geschenk des Ablasses zu gewinnen und so in den kommenden Monaten die zarte kindliche Verehrung unserer Mutter, der seligsten Jungfrau Maria, zu fördern. „Ihr liebevoller Blick begleite uns durch dieses Heilige Jahr, damit wir alle die Freude der Zärtlichkeit Gottes wiederentdecken können. Kein anderer hat so wie Maria die Tiefe des Geheimnisses der Menschwerdung Gottes kennengelernt. Ihr ganzes Leben war geprägt von der Gegenwart der fleischgewordenen Barmherzigkeit. Die Mutter des Gekreuzigten und Auferstandenen ist eingetreten in das Heiligtum der göttlichen Barmherzigkeit, denn sie hatte zutiefst Anteil am Geheimnis seiner Liebe.“[55]

In herzlicher Liebe segnet Euch

Euer Vater Javier

Rom, 4. November 2015


[1] Zweites Vatikanum, Pastoralkonst. Gaudium et spes, Nr. 40

[2] Vgl. Papst Franziskus, Enz. Laudato Si’, 24.5.2015, Nr. 77

[3] Preces des Werkes, Gebet

[4] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 2

[5] Hl. Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 30.11.1980, Nr. 1

[6] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 5

[7] Hl. Josefmaria, Brief 24.3.1930, Nr. 1

[8] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 7

[9] Hl. Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 30.11.1980, Nr. 8

[10] Seliger Paul VI., Ansprache bei der Generalaudienz, 14.4.1976

[11] Hl. Josefmaria, Brief 25.1.1961, Nr. 1

[12] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einer Betrachtung, 11.4.1952

[13] Ebd.

[14] Papst Franziskus, Ap. Schreiben, Evangelii gaudium, 24.11.2013, Nr. 279

[15] Hl. Josefmaria, Brief 25.1.1961, Nr. 3

[16] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einer Betrachtung, 4.6.1937

[17] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 9.11.1971

[18] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 14.6.1972

[19] Vgl. Dante Alighieri, Monarchia, 1

[20] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 9

[21] Hl. Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 30.11.1980, Nr. 5

[22] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 27.3.1972

[23] Hl. Johannes Paul II., Enz. Dives in misericordia, 30.11.1980, Nr. 5

[24] Vgl. Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 173

[25] Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 309

[26] Hl. Josefmaria Aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 11.9.1971

[27] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 20

[28] Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 25.9.1971

[29] Hl. Josefmaria, aufzeichnungen aus einem Familientreffen, 9.9.1971

[30] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 5

[31] Ebd., Nr. 10

[32] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2447

[33] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 15

[34] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2447

[35] Hl. Josefmaria, Instruktion, 9.1.1935, Nr. 196

[36] Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 111

[37] Vgl. Hl. Johannes Paul II., Ap. Schreiben, Salvifici doloris, 11.2.1984

[38] Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1520

[39] Papst Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium, 24.11.2013, Nr. 210

[40] Vgl. Papst Franziskus, Ansprache beim Angelus, 6.9.2015

[41] Hl. Josefmaria, Brief 24.10.1942, Nr. 44

[42] Papst Franziskus, Ap. Schreiben Evangelii gaudium, 24.11.2013, Nr. 200

[43] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 15

[44] Hl. Josefmaria, Brief 24.10.1942, Nr. 44

[45] Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 927

[46] Benedikt XVI., Botschaft für die Fastenzeit 2012, 3.11.2011, Nr. 1

[47] Ebd.

[48] Ebd.

[49] Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 309

[50] Ebd., Nr. 225

[51] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 15. Das Zitat von Johannes vom Kreuz ist genommen aus Worte von Licht und von Liebe, 57

[52] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 17

[53] Hl. Josefmaria, Brief 8.8.1956, Nr. 35

[54] Papst Franziskus, Bulle Misericordiæ vultus, 11.4.2015, Nr. 17

[55] Ebd., Nr. 24