Das offene Herz Gottes - Barmherzigkeit und Apostolat

Als Jesus die Versuchung überwindet, sich ein irdisches Reich zu unterwerfen, lässt er durchscheinen, wie seine Herrschaft über den Lauf der Geschichte sein wird. Menschlich betrachtet mag dies naiv erscheinen, dass Gott durch Barmherzigkeit herrschen will. Doch gerade damit beauftragt er seine Gesandten, die Christen, Ihn in der Welt gegenwärtig zu machen.

Mein Reich ist nicht von dieser Welt, antwortet Jesus, als Pilatus ihn zu den Anschuldigungen des Hohen Rates befragt. Er ist ein König, aber anders als die Menschen einen König kennen. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier.[1] Wenige Stunden vorher hatte er ähnliche Worte gebraucht, um Petrus zu bewegen, das Schwert in die Scheide zu stecken.Oder glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?[2] Gott bricht nicht mit menschlicher Waffengewalt in die Welt ein, sondern mit dem zweischneidigen Schwert seines Wortes, das richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens[3]. „Jesus kämpft nicht, um einen Raum der Macht zu festigen. Wenn er Umzäunungen niederreißt und Sicherheiten zur Diskussion stellt, dann tut er das, um eine Bresche zu öffnen für den Strom der Barmherzigkeit, den er gemeinsam mit dem Vater und dem Heiligen Geist auf die Erde gießen möchte. Eine Barmherzigkeit, die vom Guten zum Besseren fortschreitet, die etwas Neues verkündet und bringt, die heilt, befreit und ein Gnadenjahr des Herrn ausruft.“[4]

Gott sieht auf das Herz

In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.[5] Ego vinci mundum – seit den Ereignissen im Abendmahlssaal stärkt das hohepriesterliche Gebet Jesu die Jünger aller Zeiten. Der Herr siegt, auch wenn die Verkündigung des Evangeliums auf große Schwierigkeiten stößt, sogar auf so große, dass es aussieht, als scheitere die Sache Gottes. Christus vincit, allerdings auf eine Weise, die nicht der Logik menschlicher Macht folgt. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege.[6]

All die Macht und Herrlichkeit dieser Reiche will ich dir geben; denn sie sind mir überlassen, und ich gebe sie, wem ich will.[7] Als der Teufel Jesus alle Nationen der Erde vor Augen führte, bot er ihm nicht so sehr Luxus und Reichtum an, sondern die Weltherrschaft und damit die Unterwerfung der Menschen unter seinen Willen. Der Teufel verzerrt das Versprechen des Vaters an den Sohn, das wir dienstags im Psalm 2 betrachten: Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe[8]; er verweltlicht es, als er ihm eine Erlösung ohne Leiden vorschlägt. Aber „Jesus weiß sehr gut, dass nicht die weltliche Macht die Welt rettet, sondern die Macht des Kreuzes, der Demut, der Liebe“[9]. Indem er diese Versuchung verwirft und so allen Christen den Weg vorzeichnet, zeigt er, wie seine Herrschaft über die Geschichte aussieht, auch wenn sie in den Augen der Menschen töricht erscheinen mag: Gott herrscht mit seiner Barmherzigkeit. Wenn sein Reich nicht von dieser Welt ist, so ist es auch seine Barmherzigkeit nicht. Aber gerade deswegen, weil er von oben stammt[10], kann er die Welt umarmen und retten.

Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz[11]. Gott weiß nichts anzufangen mit formeller, äußerlicher Unterwerfung, die innerlich leer ist. Er sucht jeden Menschen, er klopft an die Tür jedes Einzelnen[12]: Gib mir dein Herz, mein Sohn! Deine Augen mögen an meinen Wegen Gefallen finden.[13] So sieht die Herrschaft Gottes aus: Er siegt, da er uns entwaffnet; er siegt, nicht weil er unsere Sehnsucht nach Glück nicht ernst nimmt, sondern weil er uns erkennen lässt, dass diese Sehnsucht ohne ihn ein Irrweg ist.

Je mehr ich sie rief, desto mehr liefen sie von mir weg, klagt der Herr durch den Mund des Propheten Hosea[14]. Aber auch wenn wir Menschen uns den Rufen Gottes gegenüber taub stellen können, so wissen wir als Christen doch, dass, wenn wir die Tür der Seele auch nur ein wenig offen lassen, Gott sich einen Weg in unserem Leben bahnt; und wir ergeben uns angesichts seiner unerschöpflichen Liebe. Seine Liebe ist „eine Barmherzigkeit auf dem Weg, eine Barmherzigkeit, die jeden Tag nach der Möglichkeit sucht, einen Schritt voranzukommen, einen kleinen Schritt durch das Niemandsland, dorthin, wo Gleichgültigkeit und Gewalt herrschten“[15]. Daher ist das Apostolat, das aus dem Glauben kommt, froh und gelassen: Dein Leben, deine Arbeit darf nicht negativ sein. Sie richtet sich gegen nichts und niemanden. Sie ist Bejahung, Optimismus, Jugend, Freude und Frieden.[16]

Mit der Liebe Gottes lieben

Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.[17] Gottes Blick auf die Menschen ist nicht angstvoll, sondern voller Mitleid. Durch seine Kinder will er zu allen gelangen. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.[18] Er lässt uns in dieser göttlichen Liebe leben, die das existentielle Klima und die familiäre Atmosphäre ist, in die Gott uns schon hier auf Erden einführen will, und in der wir später für alle Ewigkeit leben werden. Unsere Liebe – so unser Vater – ist weder Sentimentalitätnoch bloße Kameradschaft, noch der fragwürdige Eifer, anderen zu helfen, um die eigene Überlegenheit zu genießen. Sie bedeutet vielmehr, den Nächsten anzunehmen und in jedem Menschen das Bild Gottes zu ehren, darum bemüht, dass auch der andere dieses Bild betrachtet und sich dadurch Christus zuwenden kann[19]. Es geht also darum zuzulassen, dass Gott, der in mir lebt, durch mich lieben kann – das heißt, mit der Liebe Gottes zu lieben.

Die Liebe … ist eine Liebe wert![20] In diesen Worten, die unser Vater auskostete, verbindet sich das unendlich große Herz Gottes mit dem menschlichen Herzen, das klein ist, aber fähig, weit zu werden, um Großes zu vollbringen. Die Liebe zu Gott ist es wert, das Leben hinzugeben, um von ihm erfüllt zu werden und seine Barmherzigkeit mit vollen Händen austeilen zu können. Es ist ein Ruf zur Hochherzigkeit, eine Einladung zum Höhenflug, der meist verborgen bleibt im prosaischen Gang des alltäglichen Lebens. „Ein barmherziges Herz zu haben, bedeutet nicht, ein kraftloses Herz zu haben. Wer barmherzig sein will, braucht ein starkes, festes Herz, das für den Versucher verschlossen, für Gott aber offen ist. Ein Herz, das sich vom Heiligen Geist durchdringen und auf die Wege der Liebe führen lässt, die zu den Brüdern und Schwestern hinführen. Im Grunde ein armes Herz, das um die eigene Armut weiß und sich für den anderen hingibt.“[21]

Die Schuhe ausziehen vor dem Boden des anderen

Ein Herz, das arm ist, ist kein bemitleidenswertes Herz. Wer seine eigene Armut kennt, ist fähig, sich vom Reichtum der Liebe Gottes erfüllen zu lassen. „Gott, der selbst mit den Menschen mit-leidet, dessen Liebe nicht in einer fernen Höhe unberührt bleibt, sondern der heruntersteigt zu uns, bis in den Tod am Kreuz hinein (vgl. Phil 2, 8). Der mit-leidende Gott, der Mensch wurde, um unser Kreuz zu tragen, will unser steinernes Herz verwandeln und uns zum Mitleiden rufen, uns das "Herz von Fleisch" geben, das nicht an der Not des anderen vorübergehen kann, sondern sich verwunden lässt und zur heilenden und helfenden Liebe führt.“[22] Wir sind an der Seite eines jeden, nicht nur als jemand, der belehren will, sondern auch als der, der viel lernen kann. Je fähiger wir sind, von anderen zu lernen, umso strahlender wird all das, was Gott in unsere Seele gelegt hat. Das Herz spricht wahrhaft zum Herzen – cor ad cor loquitur -, und wie der selige John Henry Newman[23] klug bemerkte: Wer sich „vor dem heiligen Boden des anderen die Sandalen von den Füßen streift“[24], sich von ihm überraschen lässt, der vermag ihm wirklich zu helfen.

„Wenn du einen Freund oder eine Freundin siehst, der bzw. die im Leben ins Schleudern gekommen und gefallen ist, dann geh und biete ihm oder ihr deine Hand an, aber biete sie mit Würde an. Setze dich neben ihn, neben sie und höre zu… als Freund, ganz ruhig gib ihnen Kraft mit deinen Worten, gib ihnen Kraft mit dem Zuhören, mit dieser Medizin, die in Vergessenheit gerät: der „Zuhör-Therapie“. Lass den anderen sprechen, lass ihn erzählen, und dann, ganz allmählich wird er dir seine Hand entgegenstrecken, und du wirst ihm helfen im Namen Jesu Christi. Wenn du aber mit der Tür ins Haus fällst und beginnst, ihm eine Standpauke zu halten, und ihn immerzu bedrängst – den Armen –, dann lässt du ihn schlimmer zurück, als du ihn vorgefunden hast.“[25]

Heutzutage trifft der Christ mit Menschen in den unterschiedlichsten Situationen zusammen. Wenn er dann dem anderen wirklich mit offenem Herzen begegnet, kann er in seiner Seele etwas vom Frieden Gottes hinterlassen, der alles Verstehen übersteigt[26], und dieser wird auf seine Weise auch eine Spur in seiner Seele zurücklassen. Manchmal handelt es sich um Christen, die ihren Glauben nie praktiziert haben oder ihn kurz nach der Erstkommunion aufgegeben haben. Andere sind vielleicht nach Jahren – eventuell sogar sehr überzeugter – religiöser Praxis der Bequemlichkeit, dem Relativismus oder der Lauheit erlegen. Oftmals handelt es sich um Leute, die nie in einem Gespräch von Du zu Du von Gott gehört haben. Einige von ihnen werden sich anfangs vielleicht sogar einem Gespräch verweigern, weil sie meinen, ihre Freiheit verteidigen zu müssen.

Dann wird unsere Gelassenheit als Kinder Gottes wie immer unsere beste Waffe sein. Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Eure Güte werde allen Menschen bekannt. Der Herr ist nahe.[27] Die Barmherzigkeit Gottes wird uns dahin führen, alle anzunehmen wie Jesus[28], und ebenso wie Jesus uns von allen aufnehmen zu lassen[29], bei den Menschen zu sein, ihre Ratlosigkeit mitzutragen, über die Probleme nicht hinwegzugehen. Wir werden uns bemühen, ihnen neue Horizonte zu eröffnen, sie da abzuholen, wo sie stehen, sie auch zu fordern, entschieden und sanft zugleich, und ihnen dabei die Hand zu reichen.

Die Kirche, mit Christus vereint, wird aus einem durchbohrten Herzen geboren. Aus diesem weit geöffneten Herzen empfangen wir das Leben[30]. Jedes echte Apostolat ist auch immer Apostolat der Beichte. Es hilft den anderen, die überströmende Barmherzigkeit Gottes zu erfahren, der uns erwartet wie der Vater des Verlorenen Sohnes, mit dem Wunsch, uns väterlich zu umarmen, uns rein zu machen. So werden wir wieder fähig, ihm und den anderen Menschen in die Augen zu schauen. Wenn du dich einmal von ihm entfernst, dann kehre demütig um, und das heißt: beginnen und immer wieder beginnen, täglich oder sogar oftmals am Tag wie der verlorene Sohn zurückkommen und das reuige Herz in dem Wunder der Liebe Gottes – nichts anderes ist ja die Beichte – aufrichten. Durch dieses wunderbare Sakrament reinigt der Herr deine Seele und erfüllt dich mit Freude und Kraft, damit du im Kampf nicht müde wirst und immer wieder zu Gott heimkehrst, mag dir auch alles finster erscheinen. Außerdem beschützt dich die Mutter Gottes, die auch unsere Mutter ist. Ihre mütterliche Sorge gibt deinen Schritten Halt.[31]

Es mag überflüssig erscheinen, erwähnt zu werden, aber wir wissen, dass es doch nötig ist: Von Gottes Barmherzigkeit bevorzugt sind unsere Glaubensbrüder. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.[32] Unser erstes Apostolat ist das in unserem eigenen Zuhause und im Haus Gottes, der Kirche. Unser Eifer wäre unecht, wenn unser Herz den anderen Christen gegenüber gleichgültig wäre. Gott möchte, dass sie viel Liebe bekommen, damit sie ihrerseits diese Liebe weitergeben können. Deshalb ist es wichtig, Gewohnheiten abzulegen, die sich manchmal gerade im Umgang mit den Menschen einschleichen, mit denen wir am meisten zusammen sind, Distanzen abzubauen, die entstehen können, wenn wir uns nur von unseren natürlichen Neigungen leiten lassen und den Spannungen, die im Alltag auftreten, die Spitze zu nehmen. Von den ersten Jüngern Christi sagte man: Seht, wie sieeinander lieben! Kann man das auch von dir und von mir sagen? Und zu jeder Zeit?[33] Gott erwartet viel von der brüderlichen Liebe der Christen, damit der Strom seiner Barmherzigkeit[34] sich unter den Menschen einen Weg bahnen und die Welt erkennen kann, dass der Vater seinen Sohn gesandt hat und uns so liebt wie ihn[35].

Carlos Ayxelá


[1] Joh 18, 36.

[2] Mt 26, 53.

[3] Hebr 4, 12.

[4] Papst Franziskus, Predigt, 24.3.2016.

[5] Joh 16, 33.

[6] Jes 55, 8.

[7]Lk 7, 5 – 6.

[8] Ps 2, 8.

[9] Benedikt XVI., Audienz, 13.02.13.

[10] Lk 1, 78.

[11] 1 Sam 16, 7.

[12] Vgl. Apg 3, 20.

[13] Spr 23, 26.

[14] Hos 11, 2.

[15] Papst Franziskus, Predigt, 24.3.2016.

[16] Spur des Sämanns, Nr. 864.

[17] Mt 9, 36.

[18] Röm 5, 5.

[19] Freunde Gottes, Nr. 230.

[20] Der Weg, Nr. 171.

[21] Papst Franziskus, Botschaft zur Fastenzeit 2015, 4.10.2014.

[22] Kard. J. Ratzinger, Einführung in den Kreuzweg, 25.3.2005.

[23] Dies war das Motto, das der Selige auswählte, als er zum Kardinal ernannt wurde.

[24] Papst Franziskus, Apost. Schreiben Evangelii Gaudium, 24.11.2013, 169.

[25] Franziskus, Ansprache, 16.2.2016.

[26] Phil 4, 7.

[27] Phil 4, 4-5.

[28] Vgl.Mt 9, !0-11; Joh 4, 7 ff.

[29] Vgl. Lk 7, 36; 19, 6-7.

[30] Christus begegnen, Nr. 169.

[31] Freunde Gottes, Nr. 214.

[32] 1 Joh 4, 20.

[33] Die Spur des Sämanns, Nr. 921.

[34] Vgl. Papst Franziskus, Predigt, 24.3.2016.

[35] Vgl. Joh 17, 23.