Das Zuhause als Schule der Liebe

Damit die Liebe wächst, muss jede Familie die Kunst zu schenken und beschenkt zu werden vervollkommnen.

Die Familie ist keine in sich geschlossene, abgesonderte und streng private Institution, sondern eine Zelle, die offen ist für den Dienst an der Gesellschaft. Der Katechismus der Katholischen Kirche sagt diesbezüglich: „Die Familie ist die Urzelle des gesellschaftlichen Lebens. Sie ist die natürliche Gemeinschaft, in der Mann und Frau zur Hingabe der Liebe und zur Weitergabe des Lebens berufen sind. Die Autorität, die Beständigkeit und das Gemeinschaftsleben innerhalb der Familie bilden die Grundlage von Freiheit, Sicherheit und Brüderlichkeit innerhalb der Gesellschaft. Die Familie ist die Gemeinschaft, in der man von Kind auf lernen kann, die sittlichen Werte zu achten, Gott zu ehren und die Freiheit richtig zu gebrauchen. Das Familienleben ist eine Einübung in das gesellschaftliche Leben.“ 1 In Übereinstimmung damit können wir sagen, dass die Familie das natürliche Umfeld der Liebe ist.

Eine Familie, die offen ist für andere: Geben und Empfangen

Die Liebe der Eheleute führt zur Bejahung der Existenz des Partners und zum Wunsch, dass es ihm nicht nur irgendwie, sondern wirklich gut geht. Weil ich dich liebe, suche ich dein Wohl, dein Glück. Wenn dann Kinder kommen, steigert sich die Liebe zwischen den Eheleuten noch mehr, sie vervielfacht sich und zeigt sich im Bemühen um das Wohlergehen jedes Kindes. Man wünscht das Beste für sie, und zwar in jeder Beziehung: physisch, emotional, spirituell, usw. Die Familie ist aber nicht in sich selbst abgeschlossen, sondern fügt sich über ihr eigenes Umfeld hinaus in die Gesellschaft ein, denn ohne Familie existiert ja keine Gesellschaft. Die Liebe, die zwischen den Eheleuten begonnen und sich später auf die Kinder ausgedehnt hat, muss sich daher auch auf andere ausbreiten. Alle verdienen ja, an der Liebe teilzuhaben, die von der Familie ausstrahlt und sich im Wohlwollen den anderen gegenüber ausdrückt.

Damit die Liebe wachsen kann, muss jede Familie in der Fähigkeit zum Geben und Empfangen wachsen. Manchmal begegnet man der Neigung zur Trennung der tiefen Einheit von Geben und Empfangen. Das Ergebnis ist die Auflösung der Familie, denn es scheint, dass „das Geben Sache der Eltern ist und das Empfangen die Sache der Kinder. Das Ergebnis sind ein paar Menschen, die untereinander kaum Verbindung haben: sich aufopfernde Eltern, mehr oder weniger verantwortungslose Kinder… Die einen wie die anderen sollten geben und empfangen, aber in erster Linie geben, denn jeder Mensch muss seinen Beitrag leisten, und erst dann sollte er auch etwas bekommen, damit er dann noch mehr und noch besser geben kann.“ 2 Enrique Rojas sagt: „Die Liebe ist nicht egoistisch. Ihr einziger Bezugspunkt ist der andere. Die Liebe beendet ein Leben in Einsamkeit.“ Aber die Liebe muss konkretisiert werden. Dazu erklärt Papst Franziskus:

„Die wahre Liebe ist nicht die Schwärmerei der Fernsehserien. Sie besteht nicht aus Illusionen. Die wahre Liebe ist konkret, (…) Jesus selbst spricht in Bezug auf die Liebe über ganz konkrete Dinge: die Hungrigen speisen, die Kranken besuchen…“

Der Papst weist auf zwei Kriterien hin. Das erste besagt, dass die Liebe mehr in Werken besteht, als in Worten. Jesus selbst hat es gesagt: In das Himmelreich kommen nicht diejenigen, die „Herr, Herr“ sagen, die viel reden; sondern diejenigen, die den Willen Gottes tun. Das ist also eine Aufforderung dazu, »konkret« zu sein, indem man die Werke Gottes vollbringt. Das erste Kriterium ist also, dass man mit Werken lieben soll, nicht nur mit Worten. Das zweite Kriterium ist folgendes: In der Liebe ist es wichtiger zu geben, als zu empfangen. Ein Mensch, der liebt, gibt, er gibt Leben, er schenkt verschiedene Dinge, Zeit, er schenkt sich selbst Gott und den anderen. Der Mensch hingegen, der nicht liebt, der egoistisch ist, der trachtet stets danach, etwas zu erhalten. Er ist immer auf seinen Vorteil bedacht.“ 3

Heutzutage gibt es viele Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen Hilfe brauchen: wegen Hunger, kriegsbedingter Emigration, Missbrauch, Gewalt, Terrorismus, Naturkatastrophen, Glaubensverfolgung, Abtreibung und Euthanasie; es gibt Arbeitslosigkeit vor allem bei jungen Menschen und Einsamkeit bei alten Menschen. Alle diese Erscheinungen erleben wir mehr oder weniger Tag für Tag. Jeder Mensch und jede Familie sind dazu aufgerufen, mitzuhelfen und einen Beitrag zu leisten für die Verbesserung der Lage der Bedürftigsten.

Das 2. Vatikanische Konzil sagt diesbezüglich: „Die Familie selbst empfing von Gott die Sendung, Grund und Lebenszelle der Gesellschaft zu sein. Diese Sendung wird sie erfüllen, wenn sie sich in der gegenseitigen Liebe ihrer Glieder und im gemeinsamen Gebet vor Gott als häusliches Heiligtum der Kirche erweist; wenn sich die ganze Familie in den liturgischen Gottesdienst der Kirche eingliedert; wenn schließlich die Familie zu echter Gastfreundschaft bereit ist, Gerechtigkeit und andere gute Werke zum Dienst aller notleidenden Brüder fördert. Unter den verschiedenen Werken des Familienapostolates seien folgende genannt: verlassene Kinder an Kindes Statt annehmen, Fremde freundlich aufnehmen, bei der Gestaltung des Schullebens helfend mitwirken, Heranwachsenden mit Rat und Tat zur Seite stehen, Brautleuten zu einer besseren Ehevorbereitung helfen, in der Katechese mitarbeiten, Eheleute und Familien in materieller und sittlicher Not stützen, alte Menschen nicht nur mit dem Notwendigen versehen, sondern ihnen auch einen angemessenen Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt zukommen lassen.“ 4

Im Jahr der Barmherzigkeit bietet sich uns eine neue Gelegenheit, die Liebe in der eigenen Familie zu verwirklichen und die Liebe in Bezug auf die Armen zu konkretisieren. Alle Werke der Barmherzigkeit ermöglichen uns, dass wir uns öffnen und uns den anderen schenken. Papst Franziskus ruft uns auf, die leiblichen Werke der Barmherzigkeit wieder neu zu entdecken: den Hungrigen zu essen geben, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranken helfen, Gefangene besuchen und die Toten begraben. Und wir dürfen auch nicht die geistigen Werke der Barmherzigkeit vergessen: Zweifelnden recht raten, Unwissende belehren, die Sünder zurechtweisen, die Trauernden trösten, Beleidigungen vergeben, lästige Menschen geduldig ertragen und für Lebende und Verstorbene zu Gott beten. „Barmherzigkeit bedeutet nicht Gutmenschentum oder bloße Sentimentalität“, sondern sie ist im Gegenteil ein Ausdruck der unendlichen Liebe Gottes zu jedem Einzelnen, und im menschlichen Bereich ist sie die Konkretisierung der Liebe zum Nächsten.

Die Familie ist also dazu berufen, eine „Schule der Großzügigkeit“ zu sein. In der Familie „lernt man ja, dass das persönliche Glück vom Glück des anderen abhängt; man entdeckt den Wert der Begegnung und des Dialogs, die selbstlose Verfügbarkeit und die großzügige Dienstbereitschaft.

Wenn Kinder bei sich zu Hause sehen, dass immer das gemeinsame Wohl der Familie gesucht wird, und dass sich die einen für die anderen aufopfern, dann lernen sie einen Lebensstil, der auf Liebe und Großzügigkeit gründet. Derartiges erlebt zu haben, hinterlässt eine unauslöschliche Spur. Die Kinder wachsen in dem Bewusstsein heran, dass die Integration in die Gesellschaft nicht nur Empfangen, sondern auch Geben bedeutet.“ 5

Sich den anderen in der eigenen Familie schenken

Wenn wir Gutes tun wollen, dann schauen wir oft auf Ereignisse oder Gegebenheiten, die sich weit entfernt abspielen, und das ist auch notwendig. Wir spenden Geld, Zeit und Arbeitseinsatz und vergessen vielleicht, dass unser vorrangiges und wichtigstes Betätigungsfeld in nächster Nähe liegt. Nicht nur beim Ehepartner und den Kindern, sondern auch bei den betagten und vielleicht kranken Eltern, die eine besondere Betreuung brauchen. Oder bei Verwandten, die aus verschiedenen Gründen Hilfe brauchen; bei guten Freunden, die unseren Rat benötigen; bei Bekannten, die wir regelmäßig treffen und die vorübergehend eine Wohnung oder einen guten Freund brauchen, usw. Für christliche Eheleute ist die erste „Peripherie“ die eigene Familie, in der es vielleicht einige gibt, die ihre liebevollen Gaben am meisten benötigen würden. Und dann auch noch die ganze Welt, um „das Böse im Überfluss des Guten zu ersticken“, wie der hl. Josefmaria gerne zu sagen pflegte. 6

Kommen wir noch einmal auf die ganz alten Leute in der Familie zurück. Genau wie die Kinder benötigen sie einen ganz besonderen Einsatz, ob es nun um die eigenen Eltern oder andere Angehörige geht, die wegen ihres Alters eine spezielle Betreuung brauchen. Die Lebenserwartung wird immer höher, aber die Betreuung der Alten hat keine entsprechenden Fortschritte gemacht. Oft werden sie als schwer erträgliche Belastung empfunden, oder noch schlimmer ist es, wenn sie aus verschiedenen Gründen verwahrlosen und allein gelassen werden. Wir müssen alle liebevoll, geduldig und hingebungsvoll betreuen, ihnen unsere Zeit, unsere Zuneigung und die nötige Hilfe anbieten und den Kindern beibringen, es genauso zu machen. Sie müssen vielleicht schon bald die eigenen Eltern pflegen, und wenn sie das nie gesehen und erlebt haben, dann werden sie es auch nicht können oder wollen. Die Familie ist der Ort, an dem die Schwächsten Hilfe und Schutz finden. Und deshalb ist sie auch die beste Umgebung, um die alten Menschen zu pflegen. In diesem Zusammenhang sagte Benedikt XVI.: „Die Qualität einer Gesellschaft, besser gesagt einer Zivilisation, beurteilt man auch danach, wie sie mit älteren Menschen umgeht und welchen Platz man ihnen im Gemeinschaftsleben einräumt.“ 7

Wenn man sich aus Liebe denen schenkt, die uns am nächsten stehen, dann tut man es mit der Freude derer, die sich Kinder Gottes wissen, bestimmt für das Glück, das man nur findet, wenn man Gutes tut.

C. Oquendo Madriz

1 Katechismus der Katholischen Kirche , Nr. 2207.

2 Oliveros F., La felicidad en las familias , Loma Editorial, 1988, México.

3 Vgl. Papst Franziskus, Homilie in Santa Marta, 9.1.2014.

4 Dekret Apostolicam Actuositatem , 18.11.1965, Nr. 11.

5 Lacalle Noriega, M., La dimensión pública de la familia . In Redescubrir la familia , Palabra, 1995, Madrid, Hrsg.: Álvarez de las Asturias, N.

6 Hl. Josefmaria, Spur des Sämanns , Nr. 864.

7 Benedikt XVI., Ansprache, 12.11.2012.