Betrachtungstext: 14. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Liebe zum Einzelnen in der Menge – Gemeinsam mit unseren Geschwistern beten – Die Probleme der anderen mit Gott teilen

DIE MENSCHENMENGE ist ein eigener Akteur im Leben Jesu. Wir sehen, wie die Menge ihm am Ufer des Sees Tiberias oder am Abhang eines nahe gelegenen Hügels lauscht, Kranke zu ihm bringt, die Wohltaten seiner Wunder genießt oder ihm beim Einzug in Jerusalem zujubelt. Doch trotz ihres Umfangs sieht der Herr jede Seele in ihrer Einzigartigkeit. Die Masse hindert ihn nicht, seine Liebe mit dem Einzelnen zu teilen. Die Evangelisten berichten, dass er von Mitleid ergriffen war, als er – nicht die Masse, sondern – all diese Menschen sah, die müde und erschöpft waren wie Schafe, die keinen Hirten haben (Mt 9,36).

Die Liebe Christi drängt uns, schrieb der heilige Paulus, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben (2 Kor 5,14). Das Wissen, dass Jesus jedem Menschen das Heil angeboten hat, ermutigt uns, uns mitten in die Menschenmenge hineinzubegeben und diese gute Nachricht zu verkünden. Der heilige Josefmaria kommentiert dazu: „Die Liebe Christi drängt uns, einen Teil dieser göttlichen Aufgabe, Seelen zu erlösen, auf unsere Schultern zu nehmen (…). [Sie] weckt in uns das Verlangen, uns als Miterlöser Christi zu betrachten und gemeinsam mit ihm alle Menschen zu befreien.“1 Dabei sind wir fest davon überzeugt, dass das erste Apostolat unser persönliches Zeugnis ist, das Zeugnis eines Lebens, das von der Freude des Evangeliums erfüllt ist.

Abgesehen von unserer unmittelbaren Familie begegnen wir täglich einer Vielzahl von Menschen: auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder am Arbeitsplatz. Wir erfahren auch über das Internet und diverse Medien von anderen Menschen. Sie alle sind Teil unserer großen Familie: Wir sind alle Kinder desselben Vaters, Bewohner derselben Erde und gleichermaßen berufen, die wahre Heimat zu erreichen. Jede Begegnung ist eine Gelegenheit, sie mit den Augen Jesu zu betrachten, für sie zu beten, mit ihren Nöten mitzufühlen und ihnen unsere Freude und unseren Frieden anzubieten.


DER HEILIGE Josefmaria sagte einmal, dass der Herr seine Augen und sein Herz jedem Menschen zuwendet und niemanden ausschließt. Und er fügte hinzu: „Die Lektion, dass wir den Menschen gegenüber nicht unnachgiebig sein dürfen, ist uns nicht entgangen. In der Lehre mögen wir unnachgiebig sein, jedoch den Menschen gegenüber niemals, niemals! Wenn wir so handeln, werden wir zwangsläufig – das ist unsere Berufung – Salz und Licht sein, und zwar in der Menge. Von Zeit zu Zeit werden wir uns mit Jesus auf ein Boot zurückziehen oder auf einen Berg begeben; doch das Gewöhnliche wird sein, mitten unter den Menschen zu leben und zu arbeiten, als einer von ihnen.“2

Die Tatsache, dass viele Gebete, die wir beten, in der ersten Person Plural – wir – verfasst sind, hängt mit diesem Band zusammen, das uns Menschen verbindet. Es ist bezeichnend, dass die ersten beiden Worte des Gebets, das Jesus uns lehrte, als die Apostel ihn um eine Gebetsanleitung baten, Vater und unser sind. Wenn wir uns an Gott wenden, der der Vater aller Menschen ist, tun wir dies zusammen mit Jesus selbst, der Sohn und Mensch ist wie wir, vereint mit allen Männern und Frauen der Menschheit. Und was wir in diesem Gebet von ihm erbitten, ist nicht der singuläre Wunsch einer Einzelperson, sondern etwas, das wir auch im Namen unserer Brüder und Schwestern vorbringen: Unser tägliches Brot gib uns heute, vergib uns unsere Schuld, führe uns nicht in Versuchung, erlöse uns von dem Bösen ...

Sich dieser Wir-Dimension in so vielen Gebeten bewusst zu werden, kann ein Weg sein, um die Bande zu stärken, die uns mit den anderen verbinden, und alle in unser Gebet einzubeziehen. Auf diese Weise werden wir eine leidenschaftliche Liebe für die Welt entwickeln, denn sie ist der Schauplatz unserer Begegnung mit Gott und unser Weg zur Heiligkeit. Alles gehört euch; ihr aber gehört Christus und Christus gehört Gott (1 Kor 3,22-23), schrieb der heilige Paulus. Der Prälat des Werkes hielt fest: „In Anbetracht dieser Wirklichkeit – alles ist euer – freuen wir uns, wenn andere sich freuen, genießen wir alle guten Dinge, die uns umgeben, und fühlen wir uns von den Herausforderungen unserer Zeit angesprochen.“3


WIR KÖNNEN uns vorstellen, dass Jesus, wenn er sich zum Beten an einen einsamen Ort zurückzog, mit seinem Vater über die Gesichter sprach, die seinen Tag erfüllten: die Kranken und Bedürftigen, die zu ihm kamen, die Apostel, die ihm von ihren Hoffnungen und Ängsten erzählten, die Pharisäer, die ihm mehr oder weniger aufrichtige Fragen stellten ... Ebenso können wir in unserem Gebet Gott die Sorgen und Anliegen der Menschen vortragen, die wir kennen: die Bitten unserer Angehörigen, Freunde, Arbeitskollegen ..., selbst derjenigen, denen wir vielleicht nur flüchtig begegnet sind, die uns in Schwierigkeiten gebracht haben oder von denen wir wissen, dass sie leiden. Denn auch wenn unser Gebet ein inniger Dialog mit Gott ist, beschränken wir uns nicht auf unsere eigenen Probleme; wir können die Welt, in der wir leben, nicht ausblenden, denn die Probleme der anderen beschäftigen auch unser Herz, weil sie das Herz Christi und der Kirche beschäftigen. Diese Dimension des Gebets ist ein Teil unserer priesterlichen Seele.

Papst Franziskus betont: „Christus ist nicht unbeteiligt am Elend der Welt vorübergegangen: Immer, wenn er eine Einsamkeit, einen Schmerz des Leibes oder des Geistes wahrgenommen hat, hat er starkes Mitleid empfunden, wie eine Mutter tief in ihrem Innern.“4 So wurde Jesus, als er von einer Menschenmenge umringt nach Naïn kam, auf den Schmerz einer Witwe aufmerksam, die gerade ihren einzigen Sohn verloren hatte (vgl. Lk 7,11-13). Wahrscheinlich hatte Jesus in seinem Haus in Nazaret die mitfühlenden Blicke von Maria und Josef erlebt – sie hatten sich nie vor der Not der Nachbarn, Verwandten und Durchreisenden verschlossen und ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten stets einen Trost ausgesprochen oder Hilfe angeboten. Nicht umsonst bemerkte seine Mutter als einzige inmitten des Trubels einer überfüllten Hochzeit, dass der Wein ausging. Sie hatte Mitleid angesichts der Vorstellung, wie unangenehm die Lage für das Brautpaar werden könnte, und zögerte nicht, ihren Sohn um Hilfe zu bitten. Bitten wir Maria, uns einen aufmerksamen Blick und ein offenes Herz wie das ihre zu schenken, um die Nöte unserer Mitmenschen zu entdecken und sie vertrauensvoll an Jesus weiterzuleiten.


1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 120-121.

2 Hl. Josefmaria, Im Zwiegespräch mit dem Herrn, Historisch-kritische Ausgabe, S. 161, Par. 3b.

3 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 19.3.2022, 7.

4 Franziskus, Audienz, 13.2.2019.