Betrachtungstext: 24. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Jesus handelt aus Erbarmen – Die Hoffnung, uns begleitet zu wissen – Das Leben als Geschenk

JESUS war unterwegs, und eine große Menschenmenge begleitete ihn. Einige dieser Weggefährten waren bei seinen Wundern dabei gewesen, andere hatten vielleicht nur einmal von ihm gehört. Doch alle empfanden eine tiefe Ehrfurcht vor diesem neuen Meister: Seine Lehre und seine Werke zeugten unverkennbar von der Macht Gottes. Als Jesus mit seinen Anhängern nach Naïn kam, erblickte er von weitem eine erschütternde Szene: Eine Witwe war dabei, ihren einzigen Sohn zu beerdigen. Der Evangelist hielt fest, wie Jesus auf dieses Geschehen reagierte: Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr (Lk 7,13).

Christus ist wahrer Mensch, daher empfindet er Mitgefühl mit dieser Frau, wie es jeder von uns fühlen würde. Doch da er auch Gott ist, ist der Trost, den er spenden kann, ungleich größer als alles, was wir anbieten könnten. Und er trat heran und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen und er sagte: Jüngling, ich sage dir: Steh auf! Da setzte sich der Tote auf und begann zu sprechen (Lk 7,14-15). Anders als bei anderen Wundern vernehmen wir hier keine Bitte an den Herrn; wir erfahren nicht einmal den Namen der Witwe oder des Jungen. Doch obwohl die Frau kein Wort spricht, kennt Jesus ihr Herz und zeigt sich bewegt in seinem Erbarmen.

Der heilige Josefmaria betont, dass Jesus „auch vorübergehen oder auch erst auf einen Ruf oder eine Bitte hin reagieren hätte können. Doch weder geht er vorbei, noch wartet er ab. Er ergreift die Initiative, bewegt vom Leid einer Witwe, die das letzte, was sie besaß, verloren hatte: ihren Sohn. (...) Er blieb und bleibt nicht teilnahmslos angesichts des Leides, das aus der Liebe kommt.“1 Jesus blickt auf unsere Kämpfe und Schmerzen genauso wie auf die der Witwe von Naïn: Er ist der erste, der uns trösten will.


IM VOLK ISRAEL herrschte ein lebendiges Bewusstsein dafür, dass Jahwe eine besondere Liebe zu den Witwen hegte. Der Herr beschützt die Fremden, er hilft den Waisen und Witwen, sagt der Psalmist (Psalm 146,9). Und die Propheten wiesen das auserwählte Volk immer wieder darauf hin, wie wichtig es war, sich um die Witwen zu kümmern und sie in ihrer Not nicht allein zu lassen. Unter den damaligen sozialen Bedingungen stand eine Frau, die ihren Ehemann verloren hatte, vor enormen Herausforderungen.

Es ist anzunehmen, dass jene Frau von Naïn daher sehr verzagt war. Zum Verlust ihres Mannes war nun noch der Verlust ihres Sohnes hinzugekommen. Er war der Einzige gewesen, der ihr helfen konnte, in ihrem Leben zurechtzukommen, und nun sollte sie alle Engpässe alleine bewältigen. Doch als bereits alles schon verloren schien, trat der Herr in ihr Leben und wirkte ein Wunder. Ähnliches sollte später bei der Auferweckung des Lazarus passieren: Die Hoffnung auf seine Genesung hatte sich damals, Tage nach seinem Tod, bereits völlig zerschlagen.

Christliche Hoffnung ist keine Naivität. Sie besteht nicht darin, zu glauben, dass alles immer glatt läuft. Manchmal lässt der Herr zu, dass sich eine Widrigkeit scheinbar endlos hinzieht und unsere menschlichen Hoffnungen, eine nach der anderen, in die Brüche gehen. Dann ist der Moment gekommen, allein auf Jesus zu vertrauen: Christus ist in euch und ist die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol 1,27), schreibt der heilige Paulus. Unsere Sicherheit liegt weder in unseren Fähigkeiten, noch im Halt, den die Welt geben kann, nicht einmal in der Überzeugung, dass sich unsere Vorstellungen und Ziele irgendwann erfüllen werden, sondern in der Gewissheit, dass Gott immer an unserer Seite ist. So schrieb der Gründer des Opus Dei: „In te, Domine, speravi: Auf dich, Herr, habe ich gehofft. ‒ Zu den natürlichen Mitteln habe ich mein Gebet und mein Kreuz hinzugefügt. ‒ Meine Hoffnung wurde nicht zuschanden, wird es niemals sein: non confundar in aeternum!2


NACHDEM DER JUNGE ins Leben zurückgekehrt war, berichtet Lukas, dass Jesus ihn seiner Mutter zurückgab (Lk 7,15). Diese rührende Geste dürfte sich tief in das Gedächtnis der glücklichen Mutter eingeprägt haben. Von diesem Moment an würde sie ihren Sohn mit völlig neuen Augen sehen. Papst Franziskus kommentiert dazu: „Indem sie ihn aus den Händen Jesu entgegennimmt, wird sie zum zweiten Mal Mutter, allerdings hat der Sohn, der ihr jetzt zurückgegeben wird, das Leben nicht von ihr empfangen. Mutter und Sohn erhalten so ihre jeweilige Identität dank des Machtwortes Jesu und seiner feinfühligen Geste.“3

Wenn jedes Menschenleben ein Geschenk ist, wird dies im Fall des Jungen aus Naïn besonders deutlich. Was Gott der Frau scheinbar genommen hatte, gibt er nun wieder in ihre Hände zurück. Unser Herr „trennt Kinder nicht gerne von ihren Eltern“, erklärt der heilige Josefmaria: „Er überwindet den Tod, um Leben zu spenden, damit jene, die einander lieben, sich nahe sind. Zugleich fordert er von den Menschen, dass sie den Vorrang der göttlichen Liebe anerkennen, der ein wahres christliches Dasein prägen muss.“4

Die Witwe von Naïn erlebte einen Prozess der Läuterung ihrer Hoffnungen. Es war für sie selbstverständlich, auf die Hilfe ihres Sohnes zählen zu können, nachdem ihr Mann aus dieser Welt geschieden war. Doch musste sie ihn für einen kurzen Moment lang loslassen, bis der Herr ihn ihr zurückgab. Von da an würde sie dieses Leben vor allem als ein Geschenk betrachten. Sie würde sicherlich auf ihren Sohn vertrauen, aber noch mehr würde sie auf den Herrn vertrauen. Mit dieser Hoffnung musste auch die Gottesmutter in den Tagen nach dem Tod Jesu leben. Deshalb kann uns niemand besser helfen als sie, die Herausforderungen des Lebens mit dem Blick auf die Auferstehung zu bewältigen: Wer auf den Herrn hofft, wird niemals enttäuscht werden.


1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 166.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 95.

3 Franziskus, Audienz, 10.8.2016.

4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 166.

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