Betrachtungstext: 27. Woche im Jahreskreis – Montag

Die Liebe öffnet uns die Augen – Jesus und die Samariter – Lieben mit Werken

EIN SCHRIFTGELEHRTER fragte Jesus einmal nach dem Zusammenhang zwischen dem ewigem Leben und der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Dem Schriftgelehrten war klar, dass das mosaische Gesetz die Nächstenliebe gebot, es herrschte jedoch Uneinigkeit darüber, wer als „Nächster" zu betrachten sei und ob dies mit der Zugehörigkeit zum auserwählten Volk zu tun hatte. Jesus nutzt diesen Dialog, um anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter von einer Liebe zu sprechen, die keine Unterscheidungen kennt.

Das Gleichnis beginnt damit, dass ein Mann auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho in die Hände von Räubern fällt und halbtot zurückgelassen wird. Ein Priester und ein Levit kommen an ihm vorbei, setzen ihren Weg aber ohne anzuhalten fort. Möglicherweise fürchteten sie, durch die Berührung des Verwundeten unrein zu werden; und so stellten sie die kultische Vorschrift über das zentrale Gebot Gottes, das vor allem Barmherzigkeit will und nicht Opfer (vgl. Mt 9,13).

Allem Anschein nach standen die Reinheitsbestimmungen mit der selbstverständlichen Versorgung eines Verwundeten in den Herzen jenes Priesters und Leviten in Konflikt. Vielleicht dachten sie: „Entweder widme ich mich dem Gottesdienst oder ich kümmere mich um diesen Menschen.“ Wenn jedoch unser ganzes Leben von der Liebe zum Herrn und zu den anderen durchdrungen ist, verschwinden solche Konflikte. Der heilige Johannes Paul II. eröffnet uns ein größeres Panorama: „Die Nächstenliebe vertreibt unseren Egoismus; sie reißt die Mauern unserer Selbstgenügsamkeit nieder; sie öffnet uns die Augen und lässt uns den Nächsten entdecken: den Menschen ganz in der Nähe, den Nächsten in der Ferne und schließlich die ganze Menschheit.“1 Kurz gesagt, die Nächstenliebe lässt uns erkennen, dass wir Gott gerade dadurch ehren, dass wir uns um diesen Menschen kümmern. Papst Franziskus drückt es praktisch aus: „Wenn ich mich jenem Mann, jener Frau, jenem Kind, jenem alten Mann oder jener alten Frau, die leidet, nicht nähere, dann nähere ich mich Gott nicht.“2


JESUS FORDERT den Schriftgelehrten heraus, seine festgefahrenen Denkmuster zu überwinden, indem er einen Samariter zum Helden des Gleichnisses macht. Die Samariter waren eine religiöse Gruppierung außerhalb der offiziellen jüdischen Religion und galten aufgrund ihrer abweichenden Reinheitsvorschriften als „unrein“, insbesondere für diejenigen, die im Tempel Kulthandlungen verrichteten. Im Gleichnis tritt der Samariter zunächst wie die beiden anderen Wanderer auf den Plan: Er schreitet auf der Straße dahin und trifft auf den schwer verletzten Mann. Doch er reagiert anders. Denn als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid (Lk 10,33). In seinem Jesus-Buch kommentierte Kardinal Ratzinger, dass der hebräische Text eindrücklicher ist und berichtet, dass der Anblick des Verwundeten den Samariter wie ein Blitz in der Seele traf. Dadurch „wird er selbst nun zum Nächsten“3.

Es mag die Zuhörer Jesu überrascht haben, dass gerade ein Samariter sich des Verletzten erbarmte. Denn ein solches Verhalten hatten sie vielleicht von den zwei anderen Männern erwartet. Doch das ist gerade, was Jesus uns verdeutlichen will: Wir sollen die Realität nicht auf unsere Vorurteile reduzieren und Menschen nicht in Schubladen stecken. Das Evangelium berichtet übrigens von mindestens zwei persönlichen Begegnungen Jesu mit Samaritern: einem Aussätzigen, der sich als Beispiel der Dankbarkeit Gott gegenüber erwies (vgl. Lk 17,11-19), und jener Frau am Brunnen, die sich in eine Apostelin verwandelte (vgl. Joh 4,7-30).

Wenn wir vorurteilslos auf andere blicken, lernen wir, sie so zu lieben, wie sie sind, und werden durch ihre Gaben bereichert. So folgen wir dem Beispiel der Liebe Christi, der immer das Gute in uns sieht. Wie der heilige Josefmaria schrieb: „Der Glaube – die große Liebesgabe Gottes – hat erreicht, alle Unterschiede und Schranken zum Verschwinden zu bringen: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus (Gal 3,28). Das Verständnis und die Liebe füreinander, die über die Unterschiede von Rasse, sozialer Stellung, Kultur und Ideologie hinweg uns als Geschwister sehen lässt, ist ein charakteristisches Merkmal des Christentums.“4


DER SAMARITER im Gleichnis ließ es nicht bei einem wohligen Mitleidsgefühl bewenden, sondern schritt sogleich zur Tat: Er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme (Lk 10,34-35).

Der Samariter verdeutlicht, dass sich Liebe in konkreten Taten zeigt, in großen oder kleinen Gesten. Durch sie drücken wir unsere Bereitschaft aus, anderen in ihrer Not zu helfen und das Leben unserer Mitmenschen annehmlich zu gestalten. Der heilige Josefmaria drängte uns, unsere Liebe zu konkretisieren, damit sie nicht nur in Worten besteht, sondern in Taten Gestalt annimmt und fassbar wird. In seiner ersten Schrift hielt er folgende Begebenheit fest: „Man erzählt, dass jemand, der im Gebet zum Herrn sagte: ,Jesus, ich liebe dich‘, vom Himmel die Antwort hörte: ,In Werken lebt die Liebe und nicht in schönen Worten.‘ Überlege, ob dieser liebevolle Vorwurf nicht vielleicht auch auf dich zutrifft.“5

Nachdem Jesus das Gleichnis beendet hat, kann er dem Schriftgelehrten die Frage zurückgeben: Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat (Lk 10,36-37). Bitten wir Maria, unsere Herzen empfindsamer zu machen und bereit, uns nützlich zu machen. Nur dann werden wir wirklich ein „Nächster“ sein.


1 Hl. Johannes Paul II., Botschaft 1986.

2 Franziskus, Audienz, 27.4.2016.

3 Kard. Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, Band I, S. 237.

4 Hl. Josefmaria, Glaubensreichtum, Artikel in ABC vom 2.11.1969.

5 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 933.

Foto: Zach Vessels (unsplash)