Betrachtungstext: 30. Woche im Jahreskreis – Sonntag (A)

Gott doppelt dienen – Zeugen der Liebe des Herrn sein – Ein barrierefreies Herz

DIE PHARISÄER sind zufrieden. Jesus hatte jene zum Schweigen gebracht, die weitgehend ihre Rivalen geworden sind: die Sadduzäer. Doch nun sind sie an der Reihe, den Meister aus Nazareth zu prüfen und ihn zu einer Aussage zu veranlassen, die seine Autorität in Frage stellen würde. So formuliert einer von ihnen, der weiß, dass es bei den Hunderten von Vorschriften nicht leicht ist, noch den Hauptsinn des göttlichen Gesetzes zu erkennen, die Frage: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? (Mt 22,36). Der freundliche Ton soll die Falle verstecken, in die der Herr tappen soll. Jesus antwortet zunächst auf herkömmliche Weise. Das größte Gebot bestehe darin, Gott zu lieben, sagt er. Diese Aussage ist nichts Neues für einen frommen Juden. Doch dann fügt der Herr mit aller Natürlichkeit noch einen zweiten Satz hinzu, der einschlägt: Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Mt 22,39). Die Betonung liegt auf diesen zwei Wörtern: ebenso wichtig.

Zunächst mag der Pharisäer die Aussage für übertrieben gehalten haben: Wie kann die Gottes- und die Menschenliebe gleich wichtig sein? Doch Jesus geht es gerade um diesen Paradigmenwechsel: Gott ist Mensch geworden, und hat uns durch seine Menschwerdung, sein Opfer am Kreuz und seine Auferstehung zu seinen Kindern gemacht. Wenn wir ihn also wirklich lieben wollen, müssen wir uns auch anstrengen, jedes seiner Kinder lieben zu lernen. Daher kann Papst Franziskus etwa sagen: „Solange es einen Bruder oder eine Schwester gibt, denen wir unser Herz verschließen, sind wir noch weit davon entfernt, Jünger zu sein, wie Jesus es von uns verlangt.“1 Hingegen wissen wir, dass die Liebe zu Christus und die Liebe zu den anderen so sehr miteinander verknüpft sind, „dass“, wie der heilige Josefmaria schrieb, „bei jedem Akt der Brüderlichkeit Kopf und Herz oft nicht unterscheiden können, ob es sich um einen Dienst an Gott oder um einen Dienst an den Brüdern handelt; denn im zweiten Fall erweisen wir Gott einen doppelten Dienst.“2


WENN WIR versuchen, als Jünger Christi zu leben, zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu den anderen ganz natürlich in unserem Verhalten. Darauf weist der heilige Paulus in der zweiten Lesung des heutigen Gottesdienstes hin: Ihr wisst selbst, wie wir bei euch aufgetreten sind, um euch zu gewinnen (1 Thess 1,5). Der Wunsch, mit gutem Beispiel voranzugehen, soll dabei niemals Ausdruck des Versuchs sein, sich von den anderen abzuheben, sei es um bewundert zu werden oder die eigene Selbstzufriedenheit zu nähren. Im Gegenteil, ein authentisches Zeugnis muss gelebte Liebe sein, aktive Sorge um unsere Mitmenschen: Auf diese Weise wird unser Verhalten wahrer Erweis der Liebe Gottes zu jedem Menschen sein. „Die gut gelebte Brüderlichkeit“, schreibt der Prälat des Werkes, „ist unmittelbares Apostolat. Zahlreiche Menschen werden unsere Liebe zueinander sehen und so einen Anlass haben, um auszurufen, wie sie es angesichts der ersten Christen taten: ,Seht, wie sie einander lieben.‘ Sie werden sich durch diese christliche Liebe angezogen fühlen.“3

Der heilige Josefmaria erklärte in Hinblick auf das christliche Zeugnis:„Wenn ich dich auf das ,gute Beispiel‘ anspreche, will ich dich auch daran erinnern, dass du immer Verständnis haben und entschuldigen sollst, dass du Frieden und Liebe auf der Welt verbreiten sollst.“4 Es hätte nämlich keinen Sinn, wenn die anderen zwar gut von uns reden, zu uns aber Distanz hielten, als wären wir kalte und unerreichbare Vorbilder. Gerade weil durch unsere Liebe Gottes Nähe gegenwärtig wird, besteht unser Hauptzeugnis darin, der Welt den Frieden und die Liebe zu schenken, die wir vom Herrn empfangen haben.

Der Gründer des Opus Dei stellte sich einmal die Frage, wie wir Jesus bekannt machen sollen, und gelangte zu folgender Antwort: „Durch unser Beispiel: Seien wir seine Zeugen, mit unserem freiwilligen Dienst an Jesus Christus, bei allen unseren Tätigkeiten, denn er ist der Herr über alle Wirklichkeiten unseres Lebens, er ist der letzte und einzige Grund unseres Lebens. Und dann, wenn wir dieses Zeugnis des Beispiels gegeben haben, werden wir auch fähig sein, die Menschen im Wort, in der Lehre zu unterweisen.“5


IN DER ERSTEN Lesung der heutigen Messe aus dem Buch Exodus werden wir daran erinnert, dass die Liebe zu anderen Menschen anspruchsvoll sein kann. Der heilige Autor führt uns eine Liste von besonders schutzbedürftigen Menschen vor Augen, die in der Gesellschaft möglicherweise ungerecht behandelt werden oder ein schweres Leben führen: Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen (Ex 22,20-21). Im Grunde fordert der Herr uns auf, stets auf die hilfsbedürftigsten Menschen in unserer Umgebung zu achten, nicht nur auf jene, zu denen wir eine höhere Affinität empfinden. Das bedeutet nicht, dass wir die bestehenden Freundschaftsbeziehungen vernachlässigen sollen, sondern dass wir die Zuneigung, die wir hierbei empfinden, als Anstoß nehmen sollen, um auch allen anderen um uns herum die Hand zu reichen, so dass es in unseren Herzen keine Unterscheidungen mehr gibt. So hat Jesus gelebt: Jeder, der zu ihm kam, fühlte sich auf einzigartige und besondere Weise geliebt, selbst wenn der Kontakt mit ihm nur von kurzer Dauer war.

Diese Liebe zum Nächsten „besteht“, wie Papst Franziskus erläutert, „aus Nähe, aus Zuhören, Teilen und Fürsorge für den anderen. Und oft versäumen wir es, dem anderen zuzuhören, ihn mitzunehmen oder ihn in seinen Sorgen, in seinen Prüfungen zu begleiten, weil er uns langweilt oder Zeit kostet“6. Gerade wenn es uns besonders schwer fällt, einen bestimmten Menschen zu lieben, weil wir vielleicht nicht spontan mit ihm auf einer Wellenlänge sind, sollten wir unsere Zuflucht bei Gott suchen und mit dem Psalmisten sagen: Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke (Ps 18,2). Christus bietet uns die Sicherheit einer bedingungslosen Liebe, die es uns wiederum ermöglicht, diese Liebe unbegrenzt an andere weiterzugeben. Der Prälat des Opus Dei erinnert daran: „Unsere Liebe zu Gott – eine übernatürliche Liebe – ist Antwort auf Gottes Liebe zu allen und zu jedem einzelnen. Der Herr selbst hat sie uns als Vorbild und Horizont für unsere Liebe zu unseren Mitmenschen hingestellt.“7. Wir bitten Maria, die Königin der Apostel, zu entdecken, dass wir geschaffen sind, um zu lieben, und dafür die unendliche Liebe des Herrn frei empfangen haben.


1 Franziskus, Angelus-Gebet, 25.10.2020.

2 Hl. Josefmaria, Instrucción, Mai 1935 – September 1950, Nr. 75.

3 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023, n. 16.

4 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 560.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 182.

6 Franziskus, Angelus-Gebet, 25.10.2020.

7 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023, n. 1.